Tadej Pogacar ist der Superstar des Radsports und der große Favorit auf den Sieg bei der 112. Tour de France.

Wenn die Profis die großen Berge der Tour de France bezwingen, träumen viele ambitionierte Hobbyfahrerinnen und -fahrer davon, sich ein Stück dieser Faszination in den eigenen Radsportalltag zu holen. Was lässt sich tatsächlich vom Spitzensport ins eigene Training übernehmen, was überlässt man eher den Profis – und was steckt hinter bekannten Trainingsmythen?

1. Trainingsgestaltung: Zwischen Profi-Plan und Feierabendrunde

Spitzenfahrer verfügen über einen Trainingsplan, der exakt auf ihren Körper abgestimmt ist. In verschiedenen komplexen Tests ermittelt ein Team aus Trainern, Sportwissenschaftlern, Ärzten und Physiotherapeuten die individuelle Belastbarkeit der Radsportler, ihre Regenerationsfähigkeit und Blutwerte. «Dazu zählen unter anderem die maximale Sauerstoffaufnahme, der Blutlaktatwert, die Herzfrequenz in verschiedenen Belastungszonen sowie Wattwerte», erklärt der Lüneburger Mediziner Steffen Brand, der selbst Leistungssportler war und über 3.000 Meter Hindernis an zwei Olympischen Spielen teilnahm.

Dabei stehen die Höhentrainingslager in 2.000 bis 3.000 Metern Höhe zur Verbesserung der Ausdauerleistung bei den Profi-Teams vor der Tour ganz im Zeichen der akribischen Vorbereitung, wie auch der deutsche Tour-Teilnehmer Florian Lipowitz im dpa-Interview sagt: «Ich meine, wir machen ja nichts anderes als trainieren, essen und schlafen. Wenn das ganze Leben so ausschauen würde, dann wäre es schon ziemlich monoton.»

Mythos: «Nur wer täglich hart und lange trainiert, wird schneller»

Für Hobbyfahrer ist das weder nötig noch realistisch. Wer ambitionierte Ziele hat, etwa die Teilnahme an Jedermann-Rennen wie den Cyclassics, sollte zur Leistungssteigerung bestimmte Trainingsprinzipien beachten – und es nicht übertreiben. «Es ist definitiv falsch, täglich hart zu trainieren», sagt Mediziner Brand. Selbst im Profisport könnten in einigen Fällen auch zwei bis drei intensive Einheiten pro Woche ausreichend sein. Eine sehr wichtige Rolle nimmt dabei auch die Regeneration ein, also gut schlafen.

Entscheidend sei die Abwechslung: «Wir brauchen Variabilität im Training. Dazu gehören lange, wenig belastende Ausfahrten für die Grundlagenausdauer und andererseits Intervalltraining zur Geschwindigkeitsentwicklung und Bergtraining für die Kraftausdauer», erklärt der 60-Jährige. 

Mythos: «Indoor-Training zählt nicht so viel wie auf der Straße»

Das systematische Indoor-Training auf der Rolle erfreut sich zunehmender Beliebtheit. «Ich persönlich halte Training auf der Rolle für sehr sinnvoll – nicht nur, weil ich Schönwetterfahrer bin», sagt der Olympia-Fünfte von 1992 mit einem Augenzwinkern. Digitale Plattformen und Apps bieten strukturierte Programme, mit denen sich erste Erfahrungen mit Wattzahlen und Herzfrequenzbereichen sammeln lassen. Dabei hilft die Pulsuhr, die Belastung besser zu steuern. «Sie ist für mich wichtiger als die Geschwindigkeit, die ja von Wind und Wetter, Straßenbelag und Verkehr abhängt», sagt Brand.

2. Ernährung: Zwischen Maß, Timing – und dem Hungerast

Im Profiradsport ist die Ernährung ein präzise kalkulierter Faktor. Bei schweren Bergetappen gilt es laut Angaben von Lipowitz‘ Radteam Red Bull-Bora-hansgrohe, sich auf einen Kalorienverbrauch von durchaus auch mal 8.000 Kalorien einzustellen. Zum Vergleich: Bei normaler Belastung verbraucht ein Mensch pro Tag zwischen 2.000 und 3.000 Kalorien pro Tag.

Für jede Etappe der Tour de France wird für den Fahrer der Bedarf an Kohlenhydraten, Eiweiß und Flüssigkeit berechnet. Gels und Energieriegel sind individuell abgestimmt, um Leistungseinbrüchen vorzubeugen. «Mit ihnen wird sichergestellt, dass auch noch am Ende der Etappe ausreichend Energie für einen Sprint vorhanden ist und die Muskulatur keinen Schaden nimmt», sagt der vierfache deutsche Meister.

Mythos: «Während der Ausfahrt reicht Mineralwasser völlig aus»

Für Freizeitfahrer ist das alles kein Muss – aber ganz ohne Strategie geht es auch hier nicht. «Diese Energie- und Flüssigkeitszufuhr ist auch für uns wichtig, wenn wir länger als circa 1,5 Stunden Rad fahren», so Brand. Für kürzere Ausfahrten reicht meist Wasser. Sobald die Tour länger oder intensiver wird, sind Energieriegel, Gels, isotonische Getränke und Elektrolyte sinnvoll. «Die richtige Energie- und Flüssigkeitszufuhr macht uns nicht schneller, die falsche aber langsamer.»

Mythos: «Man sollte auf dem Rad erst essen, wenn man Hunger hat»

Während der Fahrt sollten alle 30 bis 40 Minuten Kohlenhydrate zugeführt werden, auch wenn sich noch kein Hunger meldet. «Nichts ist schlimmer als der Hungerast. Der lässt sich nicht so schnell – bis gar nicht – kompensieren», erklärt Brand. So erging es auch Deutschlands einzigem Toursieger Jan Ullrich. 1998 verlor er wegen eines solchen Hungerastes, dem plötzlichen Leistungseinbruch wegen erschöpfter Kohlenhydratspeicher, auf einer Alpenetappe hoch zum Galibier viele Minuten auf Konkurrent Marco Pantani. So verpasste Ullrich seinen möglichen zweiten Triumph bei der Frankreich-Rundfahrt. 

Direkt nach einer Fahrt sollten übrigens reichlich Energie und vor allem Eiweiß zur Regeneration zugeführt werden. Die gern bemühte Idee, nach dem Training nichts zu essen, um abzunehmen, sei kontraproduktiv. «Das verlängert die Regeneration und ist leistungshemmend», sagt Brand.

3. Equipment: Gewicht, Aerodynamik, Setup – bis zu welchem Preis?

Aerodynamik, Carbonrahmen, elektronische Schaltung – das Equipment der Tour-Profis ist Hightech pur und kann durchaus 15.000 Euro kosten. Und klar: Ein Rad mit Aero-Felgen und 6,8 Kilogramm Systemgewicht bringt tatsächlich Vorteile. Bei hohen Geschwindigkeiten können sich diese auf 30 bis 40 Watt summieren. Doch für die meisten Freizeitfahrer sind andere Faktoren viel entscheidender: «Das auf den Fahrer abgestimmte Setup – also Sitzposition, Sattel- und Lenkerhöhe – ist mindestens genauso wichtig wie das Rad selbst», sagt der Orthopäde.

Mythos: «Gewicht des Rads ist für Hobbyfahrer der größte Hebel»

Was viele nicht wahrhaben wollen: Nicht das Rad ist der limitierende Faktor – sondern der Mensch darauf. Brand sagt: «Fünf Kilogramm weniger auf der Waage und systematisches Training bringen eine Leistungssteigerung, die ich mit einem teureren Sportgerät nicht erreichen kann.»