Wie oft Lara Gut-Behrami wohl an jenen 2. Februar 2008 zurückdenkt? Als sie im Alter von 16 Jahren erstmals eine Weltcup-Abfahrt bestritt und kurz vor Ende ins Straucheln geriet, stürzte und auf dem Rücken über die Ziellinie purzelte, nur noch einen Ski am Fuß. Als das Publikum in St. Moritz damals kurz den Atem anhielt, die Teenagerin sich aber schnell aufrappelte und breit grinsend winkte, die rechte Gesichtshälfte voller Schnee. Als sie trotz des Malheurs Dritte wurde und ihre Podestpremiere im Weltcup feierte. Als die Schweiz einen neuen Ski-Star bekam.
Mehr als eineinhalb turbulente Jahrzehnte später steht die Sportlerin auf dem Zenit ihres sportlichen Schaffens. Die Eidgenossin gewinnt in dieser Saison zum zweiten Mal den Gesamtweltcup, die beste Riesenslalom-Fahrerin ist sie zudem. Beim Weltcup-Finale in Saalbach-Hinterglemm kann sie am Wochenende auch noch die Disziplin-Wertungen in Abfahrt und Super-G für sich entscheiden.
Es wäre ein Coup: In einer Saison die große Kristallkugel für die Gesamtwertung sowie drei kleine Pokale in drei der vier alpinen Kerndisziplinen zu gewinnen – dieses Kunststück hatte bei den Frauen bislang nur US-Superstar Mikaela Shiffrin geschafft.
Gewinnen und anecken
Manch ein Experte mag nun prahlen, schon damals in St. Moritz geahnt zu haben, dass aus der jungen Lara mal eine der besten Rennfahrerinnen ihrer Generation wird. Die Umwege, Rückschläge und Turbulenzen auf dem Weg nach oben waren aber ebensowenig vorherzusehen wie die Wandlung, die die Athletin in den Jahren vollzog – und die nun dazu führte, dass Gut-Behrami mit 32 Jahren und knapp elf Monaten die älteste Gesamtweltcupsiegerin der Geschichte ist.
Ihr Karrierestart war famos: Zehn Monate nach dem Slapstick-Podesterfolg gewann der Jungstar – erneut in St. Moritz – erstmals ein Weltcuprennen; im Februar 2009 holte die noch immer minderjährige Athletin bei der WM in Val d’Isère gleich zwei Silbermedaillen. Doch schon früh eckte sie an: Durch ihr privates Trainingsteam, durch Kritik am Verband. In den Medien wurde die Frau aus dem Kanton Tessin, die fließend Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch und inzwischen auch Spanisch spricht, als arrogant charakterisiert.
«Liefern, liefern, liefern»
«Ich war 16 Jahre alt, als ich in den Weltcup kam. Ein Kind», erinnerte sie sich Anfang 2022 nach ihrem Olympiasieg in Peking, wie das Boulevardblatt «Blick» berichtete. «Bei vielen Dingen wusste ich nicht, wie ich mit ihnen umgehen solle. Ich war manchmal verloren und wusste nicht, was das Beste für mich ist. Ich musste einfach liefern, liefern, liefern.»
Nach Erfolgen gab es immer wieder Rückschläge. Im Herbst 2009 verletzte sie sich an der Hüfte und verpasste Olympia in Vancouver. 2016 gewann sie erstmals den Gesamtweltcup und sollte ein Jahr später bei der Heim-WM in St. Moritz für goldene Tage sorgen: Nach Bronze im Super-G zog sie sich bei einem Trainingsunfall aber einen Kreuzbandriss zu und fiel lange aus. Es war ein Schock. Die Winterspiele 2018 in Pyeongchang verliefen enttäuschend, im Super-G fehlte ihr eine Hundertstelsekunde zu Bronze und zwölf zu Gold.
Kein Social Media, mehr Erfolg
Kurz darauf machte sie ihre Beziehung zum Schweizer Fußball-Nationalspieler Valon Behrami öffentlich und heiratete den Ex-HSV-Profi noch im Sommer 2018. Dies war ein Wendepunkt. Sie löschte ihre Social-Media-Accounts und machte sich damit auch im Kopf freier.
Im etwas fortgeschrittenen Ski-Alter kann Gut-Behrami ihren Sport inzwischen mehr genießen und den Druck zumeist ausblenden. Zwei WM-Goldmedaillen 2021 und der Olympiasieg ein Jahr später haben da freilich geholfen. Mit bislang 369 Weltcup-Starts ist sie die erfahrenste, noch aktive Skirennfahrerin, dank ihrer Routine muss sie nicht mehr so intensiv und ausgiebig trainieren wie andere. Ihr Körper dankt es ihr: Anders als einige Rivalinnen, darunter Shiffrin, kam sie ohne Verletzungen durch die Saison.
Vater heizt Spekulation um Rücktritt an
So kann der Kugel-Viererpack am Wochenende in Saalbach gelingen – und wenn nicht, dann wird sich die Enttäuschung in Grenzen halten. Mindestens einen Winter wolle sie noch weiterfahren, verkündete sie erst zuletzt. «Sie hat ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft und will mehr», sagte ihr Vater und Trainer Pauli Gut in «Blick» und ergänzte zugleich: «Aber wer weiß: Vielleicht sagt sie schon morgen, dass sie zurücktritt.»
«Ich bin mit mir im Reinen», meint Gut-Behrami ganz entspannt, 16 Jahre, nachdem sie als Ski-Wunderkind in den Zielauslauf von St. Moritz und auf die große Ski-Bühne gestürzt war.
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