Der zwölfte Mann neben dem Fußballplatz hat nicht ohne Grund eine wichtige Bedeutung. Nicht selten peitscht das Publikum sein Team zu Höchstleistungen und Siegen an.
Auch bei der EM standen Fans wie Internet-Hit Luca Loutenbach wieder im Mittelpunkt. Der Schweizer wurde nach dem Überraschungserfolg seiner Nati im Achtelfinale gegen Frankreich wegen seiner Gefühlsschwankungen zum Renner im Netz.
Als ein Sieg für die Schweiz in weite Ferne rückte, zog er sich das Trikot über den Kopf und es wirkte, als wolle er gar nicht mehr zusehen. Nachdem ein Erfolg dank Anschluss- und Ausgleichstreffer kurz darauf in greifbare Nähe rückte, konnte sich der Mann nicht mehr halten, riss sich das Trikot vom Körper und brüllte seine Freude heraus. Der junge Mann wurde dank der vielfach geteilten und kommentierten Bilder überhäuft von Medienanfragen. Vor den Mikros wirkte er eher ruhig und besonnen. Was passiert mit Menschen auf den Stadion-Rängen, wenn die Emotionen kaum noch im Zaum gehalten werden können?
Wut und Freudentränen
Bei emotional verbundenen Sportereignissen kommt es zu einem Spannungsaufbau, bei dem «Erregungen aufeinander folgen und sich steigern», erklärt der Sportwissenschaftler und Psychologe Markus Raab von der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er erklärt die Gefühlsschwankungen so, dass plötzliche Veränderungen im Spielgeschehen in diesem Erregungsaufbau emotionale Reaktionen wie Wut und Freudentränen hervorrufen.
Aber auch die Umgebung habe in der Situation keinen zu unterschätzenden Einfluss. «Bei dem Zusammenkommen von Fremden beim Schauen eines Spiels auf der Tribüne entstehen emotional verbundene Augenblicksgemeinschaften und Momente des kollektiven Selbsterlebens», sagt Raab.
Der Schweizer Fan hatte in Interviews seine erlangte Berühmtheit im Internet immer wieder dem Erfolg der Nationalmannschaft untergeordnet. Das erklärt Sportpsychologe Raab mit einem starken Zugehörigkeitsgefühl zwischen Unterstützer und Team: «Die Identität mit einem Athleten/Mannschaft oder einer Nation erzeugt eine starke Bindung, die dazu führt, dass Siege/Niederlagen direkt mit den eigenen Emotionen und der Selbstwirksamkeit verbunden werden.»
Stärkung des eigenen Egos
Sig Zelt, Sprecher der Organisation ProFans, beschreibt, dass das Bekenntnis zu einer Mannschaft in der Fan-Wahrnehmung das eigene Ego stärke – auch gegenüber höherrangigen Personen. Wenn zum Beispiel der Nachbar ein teureres Haus habe, aber der eigene Verein den des Nachbarn schlage, sei das einfach ein tolles Gefühl für viele.
Emotionale Grenzerfahrungen in der Arena faszinieren vielleicht auch gerade nach der langen Fan-Abstinenz wegen Corona die Menschen. Und im Internet werden die emotionalen Ausbrüche auch immer wieder honoriert. Viele erinnern sich an den brasilianischen Fan bei der WM 2014, der nach der 1:7-Pleite gegen die deutsche Nationalmannschaft im eigenen Land weinend zur tragischen Figur wurde. Später schenkte er seinen nachgebauten WM-Pokal einem deutschen Fan. Im Netz wurde er zur Ikone.
Und auch bei dieser EM ist Weinen gewissermaßen belohnt worden: Nach der 0:2-Niederlage von Deutschland gegen England im Wembley-Stadion war ein weinendes deutsches Mädchen im Fernsehen und auf den Stadionbildschirmen gezeigt worden. Daraufhin hatten englische Fans gejubelt – später wurde das Mädchen in sozialen Medien gar beleidigt.
Emotionaler Ausnahmezustand
Für viele sind derlei Reaktionen kaum nachvollziehbar. Männer und Jugendliche tendieren bei Sportereignissen mehr zu aggressivem Verhalten als Frauen, erklärt Raab. Sogar die Zahl der Herzinfarkte während wichtiger Spiele zeige den emotionalen Ausnahmezustand vieler Fans. Nur durch Beobachtungen anderer im TV erzeugen Fans sogar dieselben Emotionen. «Dies führt dazu, dass wir nur durchs Beobachten extremer emotionaler Höhen und Tiefen anteilig mitempfinden können», sagt Raab. So gut wie kein anderer Bereich des Lebens schaffe es der Sport, so viele Menschen auf einmal zu verschiedenen emotionalen Extremen zu bringen.
Ein britischer Fußballfan hat später im Internet eine Spendenkampagne für das Mädchen gestartet, mit dem Ziel, ihr eine Freude zu machen und zu zeigen, dass nicht alle Menschen in Großbritannien «schrecklich» seien. Mehr als 36 000 Pfund sind dabei zusammengekommen. Einige wurden beim Mitmachen bestimmt auch von ihren Emotionen geleitet.
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