In den Armen ihrer Trainerin schien sämtlicher Druck der vergangenen Tage von Kamila Walijewa abzufallen.
Nach einem weitgehend gelungenen Kurzprogramm, das Russlands Eiskunstlauf-Supertalent alle Chancen auf den Olympiasieg in Peking eröffnet, konnte die 15-Jährige die Tränen nur mit Mühe zurückhalten. Mit 82,16 Punkten geht die von Doping-Schlagzeilen umtoste Walijewa als Führende in die Kür an diesem Donnerstag. Ob die Top-Favoritin Gold aber tatsächlich behalten dürfte, ist vorerst ungeklärt.
Walijewa «ausdrucks- und nervenstark»
Von den spärlich besetzten Tribünen im Capital Indoor Stadium gab es Beifall und aufmunternde Rufe für Walijewa, als sie als 26. der 30 Starterinnen in einem fliederfarbenen Kleid das Eis betrat. Zum Klavierstück «In Memoriam» des russischen Komponisten Kirill Richter absolvierte Walijewa bis auf einen Wackler beim Dreifach-Axel sicher und dazu auch ausdrucks- und nervenstark ihr Programm, in dem sie ihre Dreifach-Kombination stand. Ein großes Medienaufgebot und Dutzende von Fotografen verfolgten am Dienstagabend jede Bewegung.
Als die Wertung angezeigt wurde, schüttelte Walijewa auf der Bank neben der Eisfläche leicht den Kopf. Ihr Vorsprung ist nicht groß, Zweite ist die russische Weltmeisterin Anna Schtscherbakowa mit 80,20 Punkten vor der Japanerin Kaori Sakamoto mit 79,84 Punkten. Kommentieren wollte Walijewa ihren Auftritt unmittelbar danach nicht, auch der Pressekonferenz blieb sie fern.
Schtscherbakowa mochte sich dort nicht zum Fall ihrer Teamgefährtin äußern, die drittplatzierte Sakamoto räumte ein, darüber werde viel geredet. Sie kenne die Wahrheit nicht und kenne keine Details. «Ich bedauere sie. Ich will aber nicht an solche Dinge denken. Für mich ist wichtig, mich auf mich zu konzentrieren.» Von russischen Medien gab es Lob: «Unsere Athletinnen haben wieder einmal bewiesen, dass sie echte Profis sind», schrieb «Sport Express», und «championat.com» stellte fest: «Walijewa hat dem Druck standgehalten und ist bei den Olympischen Spielen großartig aufgetreten.»
Nicole Schott blendete das Geschehen um Walijewa so gut wie möglich aus. «Es ist schade für unseren Sport, dass es so einen Skandal gibt», meinte sie. «Solche Schlagzeilen sind nicht förderlich.» Viel tiefer wollte sie sich aber nicht mit der Causa auseinandersetzen: «Sie darf teilnehmen: kein Kommentar.»
Schott qualifiziert sich fürs Finale
Die sechsmalige deutsche Meisterin zeigte einen starken Auftritt, bei dem sie vor allem mit der Dreifach-Dreifach-Kombination von Flip und Toeloop glänzen konnte. Mit 63,13 Punkten erkämpfte sie die beste Punktzahl in dieser Saison und qualifizierte sich als 14. locker für das Kür-Finale. «Ich bin in der Form meines Lebens», sagte die 25-jährige Essenerin und kündigte an, auch in der kommenden Saison weiterzulaufen.
Bei Walijewa hatte das Bangen um ihren Einzel-Start nach eigenen Worten Spuren hinterlassen. «Diese Tage waren sehr schwer für mich», hatte sie im russischen Staatsfernsehen einen Tag vor der Kurzkür zugegeben. Sie freue sich über das Urteil der Ad-hoc-Kommission des Internationalen Sportgerichtshofes (Cas) in Peking, sie laufen zu lassen. Nach dem Wirbel sei sie gleichzeitig aber auch «emotional müde», gestand sie weinend: «Das sind wahrscheinlich Tränen des Glücks, aber auch des Kummers.»
Vor dem Beginn des Wettbewerbs hatte das Internationale Olympische Komitee am Dienstag weitere Details des Skandals öffentlich gemacht. Er könnte nach Darstellung der Anwälte der Eiskunstläuferin von der Medizin ihres Opas ausgelöst worden sein. Es sei zu einer «Verunreinigung mit einem Produkt gekommen, das ihr Großvater eingenommen hat», sagte IOC-Mitglied Denis Oswald unter Berufung auf die Rechtsbeistände der Russin in Peking. Dies sei Teil der Verteidigung Walijewas im Eilverfahren des Cas gewesen, fügte der Vorsitzende der IOC-Disziplinarkommission hinzu.
Ihre Anwälte hätten «Gründe präsentiert, die Zweifel an ihrer Schuld» hinterließen, sagte der Schweizer. Russischen Medien zufolge habe Walijewas Anwältin in der Cas-Anhörung darauf verwiesen, die Eiskunstläuferin könne aus einem Glas getrunken haben, das zuvor ihr Großvater genutzt habe. Durch eine Speichelübertragung könne dann die verbotene Substanz in ihren Körper gelangt sein.
Positiver Dopingtest sorgt für Unruhe
Dem widersprach der deutsche Dopingexperte Fritz Sörgel: «Die Menge für eine positive Dopingprobe kann nicht durch Speichel an einem Glasrand in den Körper gelangen», sagte der Pharmakologe der Deutschen Presse-Agentur. Die Entscheidung für eine Starterlaubnis löste international Kritik aus. So schrieb die Zeitung «USA Today»: «Was für ein Schlag ins Gesicht der Athleten, die nicht betrügen.»
Die Europameisterin hatte nach Bekanntwerden ihres positiven Dopingtests auf das Herzmittel Trimetazidin vom 25. Dezember 2021 bei den russischen Meisterschaften in St. Petersburg täglich weiter trainiert. Der Befund ihrer Probe war erst nach dem Teamwettbewerb bei Olympia bekanntgeworden. Walijewa hatte Russland zu Gold geführt.
Das IOC hatte die Siegerehrung abgesagt und beschlossen, auch auf die Zeremonie nach der Kür im Damen-Einzel zu verzichten, sollte Walijewa am Donnerstag zu den besten Drei gehören. Die Athletenkommission der USA attackierte diesen IOC-Beschluss scharf. Vorbeugend wurde zudem die Zahl der Qualifikantinnen für die Kür von 24 auf 25 erhöht, um bei einer nachträglichen Disqualifikation Walijewas keine andere Starterin zu benachteiligen.
Die in Kasan geborene Walijewa wurde in Moskau von Trainerin Eteri Tutberitse, die sie als «Jahrhunderttalent» bezeichnet, zur Olympia-Favoritin mit einem Repertoire an Vierfachsprüngen und einem großen künstlerischen Ausdrucksvermögen getrimmt. Im vergangenen Jahr stellte sie bei ihrem Sieg beim Rostelecom Cup in Sotschi mit 271,71 Punkten einen Weltrekord im Damen-Einzel auf. Tutberitse hatte 2018 bereits Alina Sagitowa zu Olympia-Gold geführt.
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