22. November 2024

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Sylvia Schenk zum IOC: Brauchen «Pingpong-Diplomatie 2.0»

Menschenrechte und Meinungsfreiheit sind brisante Themen im Weltsport. Die frühere Sportfunktionärin Sylvia Schenk übt Kritik am Internationalen Olympischen Komitee und fordert eine Kurskorrektur.

Menschenrechtsexpertin Sylvia Schenk fordert vom Internationalen Olympischen Komitee vor der Eröffnung der Winterspiele in Peking ein Umdenken im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen.

«Da muss das IOC einen Weg finden, sonst zerreißt es den internationalen Sport und die Olympische Bewegung», sagte die Frankfurter Anwältin der Deutschen Presse-Agentur.

Die Olympischen Winterspiele in Peking sind durch Themen wie Menschenrechte, Einschränkung der Meinungsfreiheit oder den Umgang mit der muslimischen Minderheit in China, den Uiguren, belastet. Ist die Position des Internationalen Olympischen Komitees, dass Sport keine Politik betreiben sollte, noch richtig?

Sylvia Schenk: Ganz am Anfang seiner Amtszeit als IOC-Präsident hat Thomas Bach sich davon distanziert, dass Sport nichts mit Politik zu tun habe. Das hat er abgeräumt. Was er aber sagt: Die Olympischen Spiele sind politisch neutral. Da kann man lange drüber streiten, ob nichts zu sagen wirklich «neutral» ist. Die Frage lautet: Welche Rolle haben das IOC und die Spiele? Dabei geht es nicht nur darum, was ein Athlet oder eine Athletin auf dem Siegertreppchen machen darf, was dort Propaganda oder ein Eintreten für Werte ist. Dazu gehört eben auch, wie das IOC mit Ländern wie China umgeht, die aus unserer Sicht erhebliche Probleme mit Menschenrechtsverletzungen haben.

Wie weit darf sich der Sport in politischen Dingen vorwagen?

Schenk: Entscheidend ist: Wie verhindert man, politisch instrumentalisiert und durch Schweigen quasi zum Komplizen zu werden? Das wird dem IOC im Moment vorgeworfen – im Fall der Tennisspielerin Peng Shuai und generell gegenüber China. Was können der Sport und die Olympischen Spiele leisten? Wie können sie für Dialogbereitschaft und Verständigung stehen angesichts zunehmender geopolitischer Spannungen, ohne zum Apologeten von Menschenrechtsverletzungen zu werden? Da muss das IOC einen Weg finden, sonst zerreißt es den internationalen Sport und die Olympische Bewegung. Nur bürokratisch zu sagen: Die Spiele sind wichtig und ansonsten ist das IOC nicht zuständig, ist völlig unzureichend.

Wie könnte ein neuer sportpolitischer Weg des IOC aussehen?

Schenk: Die Diskussion über politische Neutralität und Instrumentalisierung zu eröffnen und das Dilemma einzugestehen, wäre ein erster Schritt. Es gibt keine Menschenrechtsorganisation, die sagt, streicht mal hundert oder mehr Länder von der Vergabe-Liste für Sportveranstaltungen. Es sagt auch niemand, schafft die Olympischen Spiele ab. Es geht darum, wie man die Gratwanderung hinbekommt, Beiträge zur Verständigung zu leisten, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Der Sport und das IOC können so wertvoll sein.

Der Sport selbst reklamiert, es schon zu sein…

Schenk: Aber nicht automatisch! Die Spiele sind nicht per se gut, wie das IOC noch 2008 weismachen wollte. Da muss ein Konzept her. Im Herbst war der 50. Jahrestag der Pingpong-Diplomatie, als Tischtennisspieler aus den USA und China es geschafft haben, die Sprachlosigkeit der beiden Länder aufzuweichen. Im Grunde genommen brauchen wir eine «Pingpong-Diplomatie 2.0» oder sagen wir gleich 4.0: Wie könnte man die Rolle, die das Tischtennis in einer völlig anderen weltpolitischen Konstellation hat spielen können, in die heutige Zeit transferieren? Wie müssten dafür die Olympischen Spiele oder andere Sportevents vergeben und durchgeführt werden? Wie müssen die Sportorganisationen als aktiver Teil einer «Koalition für Menschenrechte» weltweit aufgestellt sein? Mit wem müssten sie kooperieren, ohne aber ihre Brückenfunktion in alle Länder aufs Spiel zu setzen? Das wären die Aufgaben.

Die politische Lage auf der Welt hat sich wieder zugespitzt, nicht nur die Beziehungen zwischen China und den USA sind abgekühlt. Könnte der Sport da wieder eine Mittlerrolle spielen?

Schenk: Eine Mittlerrolle wäre schon sehr anspruchsvoll. Das ist zu viel verlangt. Aber vor einem Milliardenpublikum eine positiv und emotional besetzte Plattform zu bieten für Begegnung, das Miteinander zu betonen statt das Trennende, könnte schon etwas bewirken. Das größte Risiko der Menschheit ist der Klimawandel. Ohne oder gar gegen China lösen wir das nicht. Wir sind gezwungen zu kooperieren. Die Olympischen Spiele erreichen so viele Menschen und könnten ein Symbol sein für Gemeinsamkeiten trotz aller Gegensätze. Um glaubwürdig zu sein, darf man aber die Probleme nicht leugnen oder wie das IOC sagt: Wir haben damit nichts zu tun. Noch bekommt die olympische Bewegung diese Gratwanderung nicht hin.

Ist es falsch gewesen, die Spiele nach Peking zu vergeben?

Schenk: Die Vergabe 2015 ohne Blick auf die Menschenrechtssituation war ein Fehler. Das IOC hat aber gelernt und verlangt inzwischen im Ausrichtervertrag von Bewerbern die Achtung der Menschenrechte. Damit lassen sich wichtige Prozesse anstoßen. Wenn man viele Jahre vorher Olympische Spiele vergibt, weiß man nicht, was bis zum Beginn der Spiele alles passieren wird. Die Winterspiele 2014 in Sotschi sind 2007 vergeben worden. Zu dem Zeitpunkt herrschte relativ große Euphorie, dass Russland nun näher an Europa rücken würde. Man war sehr hoffnungsfroh. Es ist aber anders gelaufen. China ist in den letzten Jahren unter Xi Jinping immer repressiver geworden.

Die nächsten Olympia-Austragungsländer nach China dürften Stand jetzt keine Problemfälle für das IOC werden.

Schenk: Mit Paris, Mailand/Cortina d’Ampezzo, Los Angeles und Brisbane ist das IOC so auf der sicheren Seite, wie es nur sein kann. Brisbane ist ein kluger Schachzug, weil dort bei der Austragung der Sommerspiele Winter ist. Und wenn wir bis 2032 größere Probleme mit Klimawandel und Hitze haben, ist das schon vorausgedacht.

IOC-Präsident Thomas Bach stehen sportpolitisch schwere Tage nach Eröffnung der Peking-Spiele bevor.

Schenk: So ist es eben, wenn man so ein Amt hat, damit muss man rechnen. Bachs Amtszeit ist geprägt von großen Herausforderungen, schwieriger als vor 20 Jahren. Aber noch einmal: Das IOC muss in einer sich rasant ändernden Welt seine Rolle neu ausgestalten. Daran fehlt es bisher.

Der Fall der chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai, die einem chinesischen Politiker Missbrauch vorgeworfen hat und zunächst von der Bildfläche verschwand, hat zwei sportpolitische Strategien beim Bemühen, ihr zu helfen, offenbart: Das IOC meint ihr mit einer stillen Diplomatie helfen zu können. Die Spielerinnen-Vereinigung WTA fordert öffentlich Aufklärung und suspendierte die Austragung aller Tennisturniere in China. Was ist richtig, was falsch?

Schenk: Es kommt immer darauf an, was im Einzelfall Sinn macht. Für eine Lösung muss die chinesische Regierung ihr Gesicht wahren können. Wirksam kann deshalb das Zusammenspiel beider Vorgehensweisen sein: Die einen hauen auf die Pauke und die anderen nutzen den Druck, der dadurch entsteht, zur stillen Diplomatie. Dazu braucht es aber Vertrauen zwischen den Akteuren. Daran fehlt es gegenüber dem IOC wegen seiner diffusen Haltung. Das Telefonat von Thomas Bach mit Peng Shuai war für sich genommen ein gutes Zeichen, nachdem man vorher wochenlang von ihr nichts gehört hatte.

Aber?

Schenk: Das ist vom IOC kommunikativ völlig verkorkst worden: Das eigentliche Problem auszublenden und so zu tun, als sei alles wieder in Ordnung, hat angesichts des fehlenden Vertrauens zum IOC nur den Eindruck verstärkt, es lasse sich instrumentalisieren. Dies macht die Herausforderung für das IOC deutlich: Vertrauen aufbauen, die Athletin wirksam schützen. Das heißt eine klare Linie haben, die sich auch nach außen vermitteln lässt.

Das IOC hat nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan viel für bedrohte Sportler getan und viele außer Landes gebracht. Das brachte in der Öffentlichkeit kaum Anerkennung. Warum?

Schenk: Das IOC hat auch ein olympisches Flüchtlingsteam geschaffen und hilft in vielen Ländern mit dem Sportentwicklungsprogramm Olympische Solidarität. Zu sagen, das IOC macht nur schlimme Sachen, ist Quatsch. Das IOC braucht aber ein Gesamtkonzept und ein entsprechendes Narrativ. Einzelne positive Aktionen gleichen Menschenrechtsverletzungen an anderer Stelle in der Verantwortung des IOC nicht aus.

ZUR PERSON: Die Anwältin Sylvia Schenk ist Sportberaterin von Transparency International Deutschland und Menschenrechtsexpertin. Von 2001 bis 2004 war die Ex-Leichtathletin zudem Präsidentin des Bundes Deutscher Radfahrer.

Interview: Andreas Schirmer, dpa