21. November 2024

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Staatsprojekt als Wundertüte: Fußball-Welt schaut auf Katar

Katars Langzeitprojekt steuert auf das Ziel hin: Die Heim-WM. Der Asienmeister von 2019 gilt als großer Außenseiter. Doch die äußerst ungewöhnliche Vorbereitung könnte zur Trumpfkarte werden.

Das ungewöhnlichste Fußball-Projekt des vergangenen Jahrzehnts steht vor der ultimativen Prüfung. Wie konkurrenzfähig sind Katars Kicker wirklich? Nach Monaten der kompletten Abschottung betritt der WM-Gastgeber die größtmögliche Bühne.

In den Vorrundenspielen gegen Ecuador, Senegal und die Niederlande geht es nicht nur um den Sport, sondern auch um die Frage: Kann ein Staatsprojekt mit schier unendlichen finanziellen Ressourcen und geballter Kompetenz aus Europa innerhalb von zwölf Jahren aus einem absoluten Fußball-Niemand ein konkurrenzfähiges Team beim größten Turnier der Welt machen?

Wenn das Team des Spaniers Felix Sanchez am Sonntag (17.00 Uhr/ZDF und Magentasport) im Al-Bait Stadion in Al Chaur gegen Ecuador die WM eröffnet, wird es eine der skurrilsten Vorbereitungen überhaupt hinter sich haben. Vier Monate tourte der WM-Debütant im Sommer durch Europa und reihte Testspiel an Testspiel – oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Im September wurde dann die nationale Qatar Stars League, in der das komplette WM-Aufgebot spielt, nach gut einem Monat vorzeitig unterbrochen, um eine lange gemeinsame Vorbereitung zu ermöglichen.

Vor Turnier: Keine großflächige Einbürgerungstour

Katars Nationalteam ist wie eine Vereinsmannschaft – aber trotzdem chancenlos? Trainer Sanchez sieht es anders, gerade mit einer positiven Erfahrung von vor drei Jahren. «2019 war es sehr schwierig sich vorzustellen, dass wir den Asien Cup gewinnen und wir haben es geschafft. Ich rede nicht darüber, dass wir Weltmeister werden, aber auf höchstem Level mitzuhalten, ist definitiv unser Ziel», sagte Sanchez, der seit 2006 in Katar mitwirkt und nacheinander in der prachtvollen Aspire Academy, bei Jugend-Nationalteams und nun seit 2017 bei der A-Nationalmannschaft arbeitete.

Katars Fußballer sind seit Jahren im Wettkampfmodus. Weil sie keine eigene Qualifikation zu absolvierten hatten, spielten sie beim Gold Cup 2021 in Nordamerika (Halbfinale), bei der Copa America 2019 in Südamerika (Vorrundenaus) und in der WM-Qualifikation in Europa (Remis gegen Luxemburg, klare Niederlagen gegen Serbien und Portugal) mit. Die Resultate und Auftritte waren oft ernüchternd. So wirklich ist wenige Tage vor dem WM-Start kaum vorstellbar, wie das namenlose Team, das einen Gesamtmarktwert in der Höhe von Nationalspieler Lukas Klostermann hat, bei der WM konkurrenzfähig sein soll.

Denn: Eine großflächige Einbürgerungstour, wie sie Katars Handballer vor der Heim-WM 2015 erfolgreich hinlegten, ist bei der FIFA nicht möglich. Als Katar vor knapp zwei Jahrzehnten versuchte, die damaligen Bundesliga-Profis Ailton und Dede einzubürgern, verschärfte der Weltverband die Regeln. Einzelne Profis wie Innenverteidiger Pedro Miguel und Karim Boudiaf konnten zwar eingebürgert werden, weil sie zuvor lange genug in Katar spielten. Echten und prominenten Qualitätszuwachs, der die Chancen auf eine WM-Sensation erhöht, gab es aber nicht.

So spielten Fußball-Stars wie Pep Guardiola, Gabriel Batistuta oder Xavi zwar im Herbst ihrer Karriere zeitweise in der katarischen Liga. Das Nationalteam konnte von diesem Glanz aber wenig profitieren. Auch die hartnäckigen Gerüchte, wonach Star-Trainer Guardiola das spannende Projekt des WM-Gastgebers irgendwann als Coach übernehmen könnte, erfüllten sich nie. Stattdessen soll es sein katalanischer Kollege Sanchez richten.

Pool von gerade einmal 5000 Spielern

Die heimische Liga befindet sich weiter in der Nische. Selten schauen mehr als 1000 Menschen im Stadien zu, große Namen gibt es kaum. «Wir wollen den nächsten Messi und Ronaldo, den nächsten Nagelsmann und Tuchel», sagte Ahmed Abbassi als Manager der Qatar Stars League der ARD. Man habe fantastische Stadien und spiele im sichersten Land der Welt.

Doch da sich die Akquise von Stars schon bis zur Heim-WM schwierig gestaltet hat, dürfte dies danach noch schwieriger umzusetzen sein. Der Fokus des öffentlichen Weltfußballs wird sich nach dem Finale am 18. Dezember schnell wieder von Katar wegwenden. Die Liga sei derzeit weit weg von internationalem Topniveau, gestand auch Nationaltrainer Sanchez in einem Interview der spanischen Zeitung «Marca» ein.

Katar hat nur rund 300.000 Staatsbürger – und obwohl in den vergangenen zehn Jahren in der Aspire Academy, die zugleich Trainingsgelände und Internat ist, viel gesichtet und trainiert wurde, gibt es nur einen Pool von etwa 5000 Fußballern. Als zweiter Gastgeber nach Südafrika in einer WM-Vorrunde zu scheitern, wäre für das Emirat nicht einmal tragisch. Für Katars Fußballer um das Sturmduo Almoez Ali und Akram Afif geht es auch darum, das Gesicht in der Vorrunde zu wahren. Und eine sportliche Blamage abzuwenden, wenn Milliarden Menschen zuschauen.

Team erwartet eine schwere Gruppenphase

Offensivfußball und spielerische Kunst sind von Katar nicht zu erwarten, so viel hat Sanchez bereits verraten. «Wenn wir konkurrenzfähig sein wollen, wäre es wie Selbstmord, wenn wir die Initiative ergreifen würden. Wir versuchen, kompakt zu stehen, möglichst wenig Chancen des Gegners zuzulassen und bei Kontern stark zu sein», sagte Sanchez, der den Kern des Teams schon seit deren Jugendzeit betreut. Der WM-Kader stand im Prinzip schon vor zwei Jahren fest, seitdem wird in diesem Kreis am Feinschliff gearbeitet.

Die Leistungen aus den Testspielen, als es gegen WM-Starter stets Niederlagen setzte und selbst gegen Jamaika oder Slowenien keine Siege gelangen, dürften in der interessanten Gruppe nicht ausreichen. «Wir treffen auf Teams, die im WM-Finale standen oder Afrika-Meister sind. Viele Spieler sind auf ihren Positionen die Besten auf der Welt, mit WM- und Champions-League-Erfahrung», sagte Sanchez. In seinen Worten schwingt mit: Jedes Tor und jeder Punkt bei der WM wären ein riesiger Erfolg. Jeder Sieg sowieso. «Wir versuchen, Normalität zu wahren. Genug Druck gibt es schon von außen», sagte der Chefcoach.

Patrick Reichardt und Armstrong Vaz, dpa