Gareth Southgate sah aus wie ein trauriger Mann. Völlig übermüdet und schwer gezeichnet vom schmerzhaften Elfmeter-K.o. im EM-Finale hockte Englands Fußball-Nationaltrainer am Tag nach dem Erlebten auf seinem Stuhl, der 50-Jährige redete mit leiser Stimme.
«Es fühlt sich heute Morgen an, als hätte man mir die Eingeweide rausgerissen», sagte Southgate nach der 2:3-Niederlage im Elfmeterschießen gegen den neuen Europameister Italien.
Nachdem Italiens Kapitän Giorgio Chiellini kurz zuvor in Rom vor jubelnden Tifosi den EM-Pokal die Höhe gestemmt hatte, saß Southgate mit hängenden Schultern im englischen EM-Lager in Burton upon Trent. Wieder mal waren den Engländern vom Punkt die Nerven versagt, wieder mal versinkt eine leidgeprüfte Fußball-Nation in kollektiver Trauer. «Das Land in Tränen nach dem nächsten Strafstoß-Fiasko», schrieb etwa die «Daily Mail». Aber wieso diesmal?
«Ich brauche eine Pause»
Southgate konnte und wollte darauf keine Antwort geben. «Ich brauche Zeit, um das alles zu reflektieren», sagte der bitter enttäuschte Ex-Profi. «Ich brauche eine Pause. Das war eine großartige Erfahrung, aber sein Land durch ein Turnier zu führen, kostet Kraft. Es gibt viel, worüber ich nachdenken muss.»
Es ist fast schon bizarr, auf welche tragische Art und Weise sich die Geschichte für den früheren Verteidiger wiederholt. Vor 25 Jahren war es Southgate, der mit seinem Fehlschuss im EM-Halbfinale gegen Deutschland vor über 70.000 bangenden Zuschauern im Wembley-Stadion Englands Traum vom Heim-Titel beendete. Am Sonntagabend und an gleicher Stelle war es erneut Southgate, der nach einem hochdramatischen Endspiel gegen die Azzurri die Elfmeterschützen der Three Lions bestimmte. Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka vergaben: Ein 23-Jähriger, ein 21-Jähriger und ein 19-Jähriger.
Selbstkritischer Southgate
«Du triffst Hunderte Entscheidungen während einer Woche, während eines Turniers sogar noch mehr. Du triffst sie nicht alle richtig. Aber du musst mehr richtig machen als falsch», sagte Southgate. «Falls ich falsche Entscheidungen getroffen habe, muss ich damit leben.» Seine Spieler um den in der Wembley-Nacht bitterlich weinenden Noch-Dortmunder Sancho nahm der Coach erneut in Schutz. «Es war meine Entscheidung, wer die Elfmeter schießt, von niemandem sonst», betonte er. «Meine Spieler sollten unglaublich stolz auf das sein, was sie geleistet haben.»
England und sein Elfmeter-Trauma, das ist eine wohl niemals endende Schreckensgeschichte. Im neunten Anlauf bei einem großen Turnier kassierten die Three Lions ihre siebte Niederlage vom Punkt. Und trotz eines insgesamt starken Turniers konnten einige Zuschauer damit offensichtlich nicht umgehen. Saka, Sancho und Rashford wurden nach ihren Fehlschüssen im Netz rassistisch beleidigt, worauf auch der britischen Premierminister Boris Johnson reagierte. «Dieses England-Team verdient es, als Helden verehrt und nicht rassistisch beschimpft zu werden», twitterte Johnson. «Die Verantwortlichen für diese entsetzlichen Beschimpfungen sollten sich schämen.»
Prinz William schockiert
Auch Prinz William sprach von inakzeptablem und «abscheulichem Verhalten». «Es muss jetzt aufhören, und alle Beteiligten sollten zur Rechenschaft gezogen werden», twitterte der Queen-Enkel. Zudem überschatteten die Videobilder von prügelnden Chaoten sowie von Müllbergen vor dem Wembley-Stadion und im restlichen London einen sportlich lange begeisternden Abend für die Three Lions. Als Luke Shaw mit seinem Blitz-Tor nach 116 Sekunden England in Führung gebracht hatte, bebte Wembley vor Freude. Alles schien aufzugehen: Southgates geniale Systemumstellung auf eine Dreierkette, dazu der Rückenwind dank einer spektakulären Stadion-Kulisse.
Doch dann kippte die Partie. Nach der Pause verlor England die Kontrolle über das Spiel und den Ball, Italiens Leonardo Bonucci (67. Minute) erzielte den verdienten Ausgleich. Es folgte ein Kampf vor der spektakulären Kulisse von 67.173 Zuschauern – bis Southgate kurz vor dem Elfmeter-Drama folgenschwere Fehler unterliefen. In der 120. Minute und mit Blick auf den Elfmeter-Showdown wechselte er seine beiden ältesten Spieler Jordan Henderson und Kyle Walker aus – und Rashford und Sancho ein. Der Rest der Geschichte ist bekannt.
Elfmeter-Training bleibt wertlos
Mehrere Jahre hat Southgate das Elfmeterschießen trainieren lassen, Sancho, Rashford und Saka habe er auch nach Trainingsleistungen ausgewählt, erklärte er. Aber lässt sich ein Elfmeterschießen in einem Heim-Finale vor über 60.000 tobenden Fans überhaupt simulieren? Southgate kennt die Kritik und wird sich darüber Gedanken machen. Aber erst mal geht es für ihn und seine Spieler in den Urlaub. «Es wird natürlich länger weh tun, aber die Jungs können stolz auf sich sein. In einem Monat werden wir schätzen können, was wir da gemacht haben, welche Liebe wir erlebt haben», sagte Kapitän Kane.
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