22. November 2024

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Schwimm-Ass Romantschuk ist mental «im Krieg»

Die Siegerehrung mit Mychajlo Romantschuk ist einer der emotionalsten Momente der bisherigen Schwimm-WM. Offen spricht der Ukrainer danach über seine Gefühle. Nun freut er sich auf einen Besuch.

Wenn Mychajlo Romantschuk ins WM-Becken springt, werden seine Gedanken für eine Weile mal nicht vom Krieg in seiner ukrainischen Heimat und den Sorgen um seinen Vater an der Front dominiert.

Direkt nach den Schwimmrennen kehrt das Thema dann mit Wucht zurück. Romantschuk ist bei den Weltmeisterschaften in Budapest einer der gefragtesten Gesprächspartner. Noch lange nach seiner Bronzemedaille über 800 Meter Freistil beantwortete der Kumpel von Deutschlands Vorzeigeschwimmer Florian Wellbrock in den Katakomben der Duna Arena Fragen – zum Sport, aber vor allem zum Krieg.

Bei der Siegerehrung weinte der 25-Jährige und klopfte sich mit der Faust auf das National-Wappen auf seiner Trainingsjacke. «Diese Medaille ist für alle Ukrainer. Sie ist für das Militär und die Armee, besonders für meinen Vater», sagte Romantschuk. «Er verteidigt mein Land.» Einmal am Tag hat der Sportler Kontakt zu ihm. Sprechen kann er mit seinem Vater, der als Soldat eingesetzt wird, aber nicht. «Morgens schreibt er mir, dass alles gut ist», sagte Romantschuk.

Emotionales Wiedersehen

Seit vier Monaten hat er seine Familie nach eigenen Angaben nicht mehr gesehen. Sie fehlt ihm. In ein paar Tagen soll zumindest ein Teil von ihr in die ungarische Hauptstadt reisen. Sein Trainer Petro Nahornji ist schon da. Pünktlich zum 800-Meter-Rennen am Dienstag erhielt er die ukrainische Freigabe und reiste nach Budapest. Kurz vor dem Start gab es ein emotionales Wiedersehen.

Nachdem sein letztes Trainingsbecken mit einer 50-Meter-Bahn «kaputt gebombt» wurde, wie es Wellbrock formulierte, zog Romantschuk nach Magdeburg. Dort trainiert er mit Wellbrock bei Bundestrainer Bernd Berkhahn. Die beiden Konkurrenten sind längst Freunde. «Gold und Silber» hatten sie sich eigentlich als Ziel gesetzt, berichtete Wellbrock nach dem Rennen. Auch mit Silber und Bronze gab es eine gemeinsame Siegerehrung.

«Als bei Mischa ein bisschen die Tränen kullerten, wäre er am liebsten rüber gerannt und hätte ihn umarmt», sagte Berkhahn über Wellbrock und ergänzte zum Verhältnis der beiden Ausnahmeathleten: «Das ist schon sehr eng und sehr familiär. Das ist einmalig.»

Dass er sein Fachwissen nun auch an einen von Wellbrocks größten sportlichen Gegnern weitergibt, darin sieht der 51-Jährige kein Problem. «Am Ende muss jeder Sportler aus dem, was er von mir bekommt, das Beste machen. Und dann gewinnt am Ende der Bessere. So sehen die beiden das auch», sagte Berkhahn. «Das ist wirklich Sport, wie er sein soll.»

Hilfe und Menschlichkeit stehen gerade in diesen Zeiten über dem Rennen um Medaillen und dem Wunsch, schneller als der Nebenmann zu sein. Andere Themen sind einfach wichtiger.

«Mental ist man im Krieg»

«Besonders am Anfang, als ich nach Deutschland gekommen bin, war es schwer, sich auf schwimmen zu konzentrieren», sagte Romantschuk. «Mental ist man im Krieg.» Nur drei oder vier Stunden habe er pro Nacht geschlafen, immer die Nachrichten verfolgt.

Eigentlich wollte er sein Land wie sein Vater gegen die russische Invasion verteidigen. In langen Diskussionen mit seiner Familie sei er aber zu dem Ergebnis gekommen, dass er mit der Waffe nichts ausrichten könne. «Irgendwann habe ich verstanden, alles was ich tun kann, ist schwimmen, trainieren, um mein Land zu repräsentieren.»

Offenheit, internationale Verständigung, Respekt für die Leistung von Menschen aller Nationen im Becken, auf dem Platz oder auf dem Hallenparkett: All das zeichnet den Sport normalerweise aus. Wie sehr die Invasion in die Ukraine dieses Wertebild durcheinanderbringen kann, zeigt sich an Aussagen von Romantschuk im Zusammenhang mit einem gesperrten russischen Schwimmer besonders.

Er wisse nicht, wie er reagiert hätte, wenn russische Sportler bei der WM zugelassen wären, sagte Romantschuk in Budapest. In Bezug auf Rückenschwimm-Olympiasieger Jewgeni Rylow, der an einer Pro-Kriegs-Kundgebung im Luschniki-Stadion in Moskau teilgenommen hatte, sagte er: «In meinem Inneren war ich bereit, ihn zu töten.» Romantschuk rang nach Worten und brachte seine ganze innerliche Zerrissenheit zum Ausdruck. «Aber davor war er ein guter Freund. Alles hat sich verändert.»

Von Thomas Eßer und Gerald Fritsche, dpa