Das WM-Ticket in der Tasche, einen stimmungsvollen Abschied von Freund und Förderer Joachim Löw auf dem Programm – und auch die heikle Impfdebatte um Joshua Kimmich hat nicht mehr die höchste Priorität.
Hansi Flick könnte sich auf einen entspannten Jahresausklang inklusive Sechs-Siege-Startrekord freuen. Doch vor dem Abschluss der Qualifikation mit den Partien am Donnerstag gegen Liechtenstein in Wolfsburg und drei Tage später im fernen Armenien wird auch der Bundestrainer wieder mit den Schattenseiten der Weltmeisterschaft 2022 konfrontiert.
Reizthema und Spannungsfeld
Katar bleibt für den Fußball ein Reizthema und Spannungsfeld. Flick und seine Nationalspieler müssen sich in den kommenden Monaten mit der politischen Lage im Emirat befassen und auch wieder handeln. Boykott, nein. Öffentlicher Druck, ja. So lautet die klare Forderung von Menschenrechtsexperte Wenzel Michalski ein Jahr vor dem WM-Anpfiff. Dafür bietet der Chef von Human Rights Watch den DFB-Stars im WM-Jahr gerne auch Lektionen in Gesellschaftskunde an.
«Der DFB sollte die Menschenrechtsverletzungen offen ansprechen. Er sollte Spieler, die motiviert sind, etwas zu sagen, in ihrer Meinungsäußerungsfreiheit nicht beschneiden, sondern sie unterstützen und vor Angriffen in Schutz nehmen», forderte Michalski in einem Interview des «Tagesspiegel».
Flick hatte die kritischen Aspekte des Mega-Events im Emirat wie unwürdige Arbeitsbedingungen für Bauarbeiter und Repressalien gegen Homosexuelle zuletzt ausgeblendet. Sein Fokus lag nach seinem Amtsantritt zunächst auf sportlichen Aspekten. Mit dem erwarteten Sieg gegen Liechtenstein würde er als erster Bundestrainer seine ersten sechs Spiele gewinnen. Auch vor dem Treffpunkt mit seinem 27-Mann-Kader am Montag im Ritz Carlton Hotel neben der Wolfsburger Autostadt setzte er zur Beobachtung seiner WM-Kandidaten seine Tingeltour durch die Bundesliga-Stadien in Leipzig und Berlin fort.
«Sport wird und muss immer Priorität haben»
«Als neues Trainerteam der Nationalmannschaft haben wir festgelegt, dass bei unseren ersten Lehrgängen der Fokus zunächst auf dem Fußball liegen muss. Der Sport wird und muss immer Priorität haben. Wir haben nur ganz wenig Zeit bis zur Weltmeisterschaft», sagte Flick der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Über gesellschaftspolitisches Engagement müsse man mit der Nationalspieler-Generation um Kimmich und Leon Goretzka nicht reden. «Zeichen wie die Regenbogenbinde oder das Knien stehen für die Werte der Nationalmannschaft und des DFB, für die Werte des Fußballs», meinte Flick.
Und doch wächst der Druck auf den Fußball-Kosmos wieder. Die T-Shirt- und Spruchband-Aktionen der DFB-Stars für Menschenrechte vor den ersten drei Quali-Spielen in März verlieren an Strahlkraft. «Müssen muss niemand. Aber die Spieler haben natürlich eine Vorbildfunktion. Das sieht man ja auch im Fall von Joshua Kimmich und seiner Weigerung, sich impfen zu lassen. Gerade wenn die Spieler in einem Land mit solchen Defiziten bei den Menschenrechten spielen, ist es angesagt, sich dazu zu äußern», sagte Michalski, der aber eher als den einzelnen Star die Verbände DFB und FIFA in der Pflicht sieht.
Persönliche Nachhilfe in Gesellschaftskunde für Flick?
Der Menschenrechtsexperte wurde vom DFB schon konsultiert und machte Flick ein WM-Angebot: Persönliche Nachhilfe in Gesellschaftskunde. «Da hoffe ich doch, dass wir noch mal die Gelegenheit bekommen, mit Hansi Flick und den Spielern zu sprechen. Das biete ich gerne an», sagte Michalski. Zu denken, Trainer und Spieler könnten sich vor Ort selbst einen Eindruck machen, sei «naiv». Gleiches gilt sicherlich für DFB-Direktor Oliver Bierhoff, der gerade in Katar nach einem passenden WM-Quartier sucht. «Man muss sich vorher überlegen: Wohnen wir in einem Hotel, das von ausgebeuteten Arbeitern errichtet wurde?», sagte Michalski.
Fragwürdig sei die Verbindung des FC Bayern zu seinem Sponsor, dem Flughafen von Doha, die die Fans des Rekordmeisters mit einem großen Banner und Vorwürfen an ihre Spitzenfunktionäre Oliver Kahn und Herbert Hainer beim Bundesliga-Spiel gegen den SC Freiburg am Samstag kritisierten. «Wenn er sich trotzdem darauf einlässt, dann muss er auch öffentlich sagen, dass der Flughafen von Arbeitern erbaut worden ist, die ausgebeutet worden sind. Es gibt eine Menschenrechtspflicht von Unternehmen, und der professionelle Sport ist eben auch ein Unternehmen», sagte Michalski.
Bei der WM würden die DFB-Stars «nur beeindruckende Architektur und großen Luxus vorfinden. Da ist alles Glanz und Gloria: Shoppingmals mit den tollsten Designermarken, American Sportsbars mit amerikanischem Bier, nette Kellner in schönen Uniformen», sagte der 58-Jährige. «Flick sollte sich schon auf das verlassen, was Menschenrechtler, Gewerkschafter und auch Journalisten bei ihren Recherchen herausgefunden haben», sagte Michalski. Die trotz moderaten Wandels in Katar ausgebeuteten Arbeiter hausten weit entfernt vom WM-Rummel in der Wüste.
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