Einmal musste Julian Nagelsmann streng sein wie ein Oberlehrer. Das Gemurmel im Pressesaal nervte den Bundestrainer vor dem EM-Anpfiff gegen Schottland so sehr, dass er energisch mehr Ruhe anmahnte. «Bisschen wie in der Schule hier drin. Vielleicht können wir alle einen Tick leiser sein. Das wäre super schön. Danke», sagte der Bundestrainer – und startete seinen mutigen und optimistischen Ausblick auf den Startschuss zur Heim-Europameisterschaft. Nervosität, ja. Die gestand er ein. Aber vor allem vermittelte er einen festen Glauben an die Titelchance für die Fußball-Nationalmannschaft.
Bei seinen Spielern spürte Nagelsmann vor dem kniffligen Auftaktduell am Freitag (21.00 Uhr/ZDF/MagentaTV) keinen Bedarf mehr für besondere Belehrungen. Den «Glauben in den Augen», hatte der Bundestrainer ausgemacht. «Die sind heiß, die haben Lust, die haben Hunger. Noch habe ich sie an der Leine, aber morgen werde ich sie loslassen», kündigte er vollmundig an.
Den Druck besiegen
Der Traum vom nächsten Sommermärchen soll gegen Schottland mit Elan und Dominanz den größtmöglichen Zündfunken bekommen. «Wir können den Druck besiegen und wir können Schottland besiegen», versprach der 36-Jährige. EM-Zweifel dürfe es nicht mehr geben. Das hatte Nagelsmann schon vor der Ankunft in München klargemacht. Manuel Neuer und Toni Kroos schrieben noch im Hotelflur Autogramme. Auch der Bundestrainer wurde am Fahrstuhl von den Fans abgefangen. Es herrschte eine gelöste Stimmung.
«Natürlich will man, dass es losgeht. Das ganze Land fiebert. Ich glaube, dass wir sehr gut vorbereitet sein werden», sagte Kroos, der Titelsammler von Real Madrid, auf dem nun riesige deutsche Fußball-Hoffnungen ruhen.
Dass in München 18 Jahre nach der rauschenden Heim-WM gegen den unbequemen Kontrahenten nicht mehr oder weniger der bestmögliche Start für das Sommermärchen 2.0 auf dem Spiel steht, war Nagelsmann durchaus klar. Beim Spiel darf und soll es dann auch richtig laut werden. «Ich will, dass wir als Land vereint die Nationalmannschaft nach vorne peitschen. Es ist enorm wichtig. Wir müssen den Heimvorteil, den wir haben, auch irgendwie nutzen», sagte Nagelsmann. «Deswegen bitte auch laut sein.»
Energy-Drink als Glücksbringer
Mit dem richtigen Energy-Drink, dem ihn sein Assistent mit dem passenden Namen Benjamin Glück aus Aberglaube aussucht, und mit dem bestmöglichen Bauchgefühl will Nagelsmann am Freitag das Stadion betreten. «In allererster Linie ist jetzt große Vorfreude, weil es ein riesiges Event ist. Wahrscheinlich wird nicht nur Europa, sondern die ganze Welt draufschauen», sagte der mit 36 Jahren jüngste deutsche Turnier-Bundestrainer.
Groß, größer, am größten: Das ist Nagelsmanns Kategorie, in der er am liebsten denkt. Die EM-Bühne mit gut 66.000 Fans in der Münchner EM-Arena und mehreren hundert Millionen TV-Zuschauern in aller Welt sollen sehen, dass drei deutsche Turnier-Blamagen Geschichte sind. Dass alle wabernden Zweifel an der Titelreife der von ihm neu strukturierten Fußball-Nationalmannschaft weggewischt werden können.
März-Momente als Mutmacher
Riesige Mutmacher im März gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1), aber auch wieder irritierende 45 Minuten in einer schöngeredeten Generalprobe gegen Griechenland (2:1) – in diesem Spannungsfeld tritt die DFB-Elf zur ersten Heim-EM seit 36 Jahren an.
«Wenn wir einen guten Start ins Turnier finden, dann bringen wir das Momentum auf unsere Seite. Dann werden die Menschen auch viel positiv emotionaler sein und uns noch weiter tragen können», sagte Ilkay Gündogan. Die Fans müssen aber erst mal gewonnen werden. «Was ich mir wünschen würde, ist ein kleiner Vertrauensvorschuss für das Turnier», sagte der Barcelona-Profi vor seiner Turnierpremiere als DFB-Kapitän.
Der Konkurrenzkampf wurde weitgehend für klare Hierarchien und Handlungssicherheit geopfert. Jetzt muss sich zeigen, ob die Stammelf bereit ist. Selten vor einem Turnier gab es so wenige Spekulationen über die richtige Anfangsformation. Nagelsmann hat sie einfach vorab festgelegt und ist bis auf die Patzer von Stammtorwart Manuel Neuer damit auch gut durch die Vorbereitung in Blankenhain und Herzogenaurach gekommen.
Startelf fix
Neuer – Kimmich, Rüdiger, Tah, Mittelstädt – Andrich, Kroos – Musiala, Gündogan, Wirtz – Havertz. So wird sich die DFB-Elf formieren, wenn bis zum Anpfiff von Schiedsrichter Clément Turpin (Frankreich) nichts mehr passiert. «Natürlich haben wir eine erste Elf im Kopf», sagte Nagelsmann. Es sei wichtig, den Stammspielern «eine gewisse psychische Sicherheit» zu geben.
«Am Ende brauchen wir genügend Spieler, die funktionieren, um erfolgreich zu sein. Es wird schwierige Situationen geben. Mit Sicherheit auch gegen Schottland. Da müssen wir da sein», forderte Kroos. Dass diese Elf mit 28,7 Jahren die älteste DFB-Startelf seit dem Turnier-Desaster bei der EM 2000 wäre – geschenkt.
Das Comeback von Kroos war ein Geniestreich von Nagelsmann. Der 34-Jährige will seine Karriere mit dem noch fehlenden EM-Titel am 14. Juli im Berliner Olympiastadion beenden. Dafür bringt er alle seine Qualitäten ein. Ruhe am Ball. Souveränität auf dem Feld. Also das, was der Nationalmannschaft in vielen konfusen Momenten in den vergangenen Jahren fehlte. Frisch sind die Erinnerungen an das Chaos auf und abseits des Platzes beim frühen WM-Scheitern in Katar 2022.
Schottland mit riesiger Fan-Gemeinde
Schottland wird dabei von allen ernst genommen. Die 100.000 in der bayerischen Hauptstadt erwarteten Gäste-Fans sind ein Folklore-Faktor. Mehrfach wies Nagelsmann darauf hin, dass die Bravehearts längst nicht mehr jene nur rennende und kämpfende Fußball-Horde sind.
Kroos holte sich auch Rat bei seinen Kollegen in Madrid ein. Auf dem Weg zur EM hatte Spanien in Schottland verloren. Physisch stark, logisch, aber auch sehr gefährlich im Umschaltspiel sei das Team um den Liverpooler Andrew Robertson. Sprich: «Die Kategorie, gegen die sich die Nationalmannschaft schwergetan hat in den letzten Jahren», sagte Kroos.
Ein Remis oder gar eine Niederlage würden den Druck vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Ungarn erhöhen. Das Schreckgespenst des Vorrunden-Aus wäre schnell wieder da. Bei diesen Gedanken springt Rudi Völler ein. Positiv denken, nicht überdrehen. Mit dieser Einstellung will der DFB-Sportdirektor in seine fünfte EM als Spieler (1984, 1988, 1992), DFB-Teamchef (2004) und nun als Funktionär gehen. «Wir brauchen nicht auszuflippen, aber ein gutes Maß an Optimismus sollte man schon haben», sagte Völler.
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