24. November 2024

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Netzer über EM-Sieg 1972: «Große Gefahren erlitten!»

1972 gewinnt Deutschland zum ersten Mal eine Fußball-Europameisterschaft. Mittendrin: Günter Netzer. Der einstige Mittelfeldstar erlebt bei dem Turnier seinen Höhepunkt im DFB-Trikot.

Es gab noch nicht mal eine gemeinsame Party. Als Deutschland 1972 zum ersten Mal Fußball-Europameister wird, macht sich Günter Netzer kurz nach dem Finale auf den Weg in seine Disco in Mönchengladbach – ohne seine Mitspieler.

Im Interview der Deutschen Presse-Agentur erinnert sich der 76-Jährige an ein außergewöhnliches Turnier, an Diskussionen mit Franz Beckenbauer – und ein einzigartiges Spiel im Wembley-Stadion.

Frage: Herr Netzer, 1972 wurde Deutschland erstmals Europameister. Sie waren eine der prägenden Figuren des Turniers. Was ist Ihnen geblieben aus dieser Zeit?

Günter Netzer: Ich kann nicht behaupten, dass ich mich immer wieder an diese Zeit erinnere. Ich würdige sie und bin dankbar dafür, aber ich lebe nicht mehr mit dieser Zeit. Ich werde nur regelmäßig daran erinnert, was ich da geleistet habe. Das ist sehr schön. Aber ich laufe deswegen nicht so stolz durch die Gegend, dass ich vor lauter Kraft nicht mehr gehen kann. Doch ich habe erkannt, dass dies etwas total Außergewöhnliches war.

Frage: Außergewöhnlich war vor allem der 3:1-Sieg im Viertelfinale gegen England. Der erste Sieg einer deutschen Mannschaft in Wembley.

Was für ein Spiel! Das Wembley-Stadion war ein Tempel für jeden Fußballspieler. Der Rasen war glatt wie ein Billardtisch, heute ist das ja normal, damals war es die absolute Ausnahme. Dann hat es noch ein wenig geregnet, Nieselregen, das waren ideale Voraussetzungen. Ein Fußballer, der bei diesen Bedingungen nicht gut spielen kann, ist kein großer Fußballer.

Frage: Die «Bild» schrieb damals vom «Ramba-Zamba-Fußball» der deutschen Mannschaft. Was hatte es damit auf sich?

Ein «Bild»-Journalist fragte mich, wie man das Wechselspiel zwischen Franz Beckenbauer als Libero und mir wohl nennen könne. Um Himmels Willen, sagte ich da, das ist doch der primitivste Schachzug, den es je gab, wie soll man das wohl nennen?! Wir haben einfach hin und wieder die Positionen getauscht, Franz ging dann ins Mittelfeld, ich auf die Libero-Position. Mir war es einfach irgendwann tierisch auf den Geist gegangen, dass ich so viel auf die Knochen kriege und der Beckenbauer sich hinten schön ausruht. Und wir im Mittelfeld wurden ins Feuer geschickt und haben große Gefahren erlitten!

«Dann kannst du da vorne mal zaubern»

Frage: Also sollte Beckenbauer sich auch mal abarbeiten.

Ich habe zum Franz gesagt: Ich ziehe mich zurück, und dann kannst du da vorne mal zaubern und beweisen, was du drauf hast.

Frage: Was war aus Ihrer Sicht der Schlüssel zu diesem Sieg?

Ich bin da in meiner Betrachtung sehr nüchtern, und ich gehe da noch heute sehr nüchtern mit um. Ich will da nicht Gott weiß was für Eigenschaften herausheben. Ob wir eine besondere Kameradschaft hatten? Die hatten wir ganz sicher nicht. Wir sind auf den Platz gegangen, und dann ist das Spiel sehr gut gelaufen. Da kam so ein gutes Gefühl auf, dass jedem von uns Dinge gelungen sind, die nicht normal waren.

Frage: Wenn man sich alte Videos vom Turnier anschaut, verblüfft es, wie lässig Sie mit Ihrer wehenden Mähne auf dem Platz unterwegs waren. Ein Pässchen hier, ein Lupfer dort. Sah es in Ihnen auch so cool aus?

Absolut. Das ist mein Naturell, so zu sein. Ich konnte auch jähzornig werden, aber das war nie meine Art. Diese Schreierei auf dem Platz hat mir nie gelegen. Und meine Trainer haben gewusst, dass ich kein Selbstdarsteller war. Ich habe immer für die Mannschaft gespielt, auf und neben dem Platz war ich da.

Frage: Im Finale wurde schließlich die Sowjetunion mit 3:0 besiegt. Welche Erinnerungen haben Sie an die Party danach?

(lacht) Das Finale war in Brüssel, was verhältnismäßig nah an Mönchengladbach war, wo ich meine Disco hatte. Mein Kumpel, der Geschäftsführer meiner Disco, war ebenfalls im Stadion. Dem habe ich gesagt: Nach dem Spiel holst du mich mit dem Auto ab, und dann trinken wir einen. Wir sind dann nach Mönchengladbach gefahren, saßen in meiner Bar, haben noch einen getrunken, und am nächsten Morgen waren wir Europameister und ich konnte es in der Zeitung lesen.

ZUR PERSON: Günter Netzer (76) war einer der besten Mittelfeldspieler, die Deutschland je hatte. Nach seiner Spielerkarriere arbeitete er unter anderem als Manager beim Hamburger SV, TV-Experte und Unternehmer. Netzer lebt seit vielen Jahren gemeinsam mit seiner Ehefrau in Zürich.

Interview: Nils Bastek, dpa