21. November 2024

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Marathon-Weltrekorde in Wunderschuhen – «Carbon ist sexy»

Ein Weltrekord in Berlin, einer in Chicago - die rasante Entwicklung der Laufzeiten fasziniert. Wie viel Schuh und wie viel Mensch stecken in den Marathon-Topzeiten? Mitunter schwingen Zweifel mit.

Wenn die Marathon-Stars sich an diesem Sonntag auf die legendären 42,195 Kilometer in New York machen, wird der Blick unwillkürlich auch auf die Schuhe gerichtet sein. Seit den Weltrekorden des Kenianers Kelvin Kiptum in Chicago vor einem Monat und dem der Äthiopierin Tigist Assefa im September in Berlin wird mehr denn je auch über das Hightech-Material an ihren Füßen debattiert.

Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann beim Weltrekord die Zwei-Stunden-Marke geknackt wird. Der Kenianer Eliud Kipchoge war vor vier Jahren schon so schnell – als Weltrekord gilt diese praktisch unter Laborbedingungen mithilfe unzähliger Pacemaker erreichte Zeit allerdings nicht.

«Den Hype um die sogenannten Superschuhe gibt es nicht erst seit den letzten Wochen», sagt Wolfgang Potthast, der die Abteilung klinische und technologische Biomechanik an der Sporthochschule in Köln leitet. Mit entsprechenden Schuhen könne die Sauerstoffaufnahme bei sehr gut trainierten Amateurläufern um vier Prozent reduziert werden. «Das bedeutet, die Muskeln benötigen vier Prozent weniger Energie, laufen also ökonomischer. Andersherum ausgedrückt heißt es, dass sie bei demselben Energieeinsatz vier Prozent schneller laufen können», sagt der Experte der Deutschen Presse-Agentur.

Wettrennen um die Wundertreter

Allen voran Nike und Adidas liefern sich im Milliarden-Business der Laufschuhe ein Wettrennen um die Wundertreter, es ist auch immer ein Duell der Sportartikelgiganten. «Wir wissen seit einigen Jahrzehnten, dass eine Reduktion des Gewichts beim Schuh um 100 Gramm die Sauerstoffaufnahme um 1 Prozent reduziert», sagt Potthast. Die Kombination aus Gewicht, einem leichten dämpfenden Schaum und einer Carbonplatte optimiert den Schuh.

«Theoretisch müsste es nicht unbedingt Carbon sein. Carbon ist aber super leicht, hat gute Eigenschaften bei der Steifigkeit. Angelehnt ist der Einsatz vom Grundgedanken an Sprintprothesen, mit denen die Paralympics-Sieger Oskar Pistorius und Markus Rehm gestartet sind», sagt Potthast. «Außerdem ist Carbon gerade modern, Carbon ist sexy und alles, was mit Carbon ist, ist cool.»

Der internationale Verband World Athletics gründete im Sommer 2020 eine Arbeitsgruppe zur immer spannenderen Schuhthematik. Danach beschloss der Verband, dass grundsätzlich jeder Schuh im Handel für jeden Athleten erhältlich gewesen sein soll, bevor er in einem Wettkampf getragen werden darf.

Umfangreiches Regelwerk

Ausnahme sind dabei sogenannte Prototypen, die die Hersteller in Wettbewerben ihren gesponserten Sportlern zur Verfügung stellen. Dieser Zeitraum ist laut Verband auf zwölf Monate begrenzt, bei Weltmeisterschaften und Olympia dürfen diese Schuhe nicht getragen werden. Zudem gibt es bestimmte Anforderungen an den Schuhaufbau. Bei der Entwicklung der neuen Schuhe im Rahmen des umfangreichen Regelwerks setzt ein Hersteller nach eigenen Angaben auf Experten aus den Bereichen Biomechanik, Coaching, Design, Ingenieurwesen, Materialentwicklung, Ernährung sowie Sportpsychologie und -physiologie.

Die rasante Entwicklung der Laufzeiten wirft abseits von Trainingsleistungen und Material aber auch Fragen auf. «Es gibt zwei Betrachtungsweisen. Die eine orientiert sich an der Entwicklung der Schuhtechnik mit dem Einbau der Carbonplatte. Damit, so sagen die Läufer, laufen sie zwei Minuten schneller, weil der Schuh eine gewisse Federwirkung hat», sagte Jo Schindler, Renndirektor des Frankfurter Marathons, der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».

«Der andere Aspekt ist, dass immer, wenn phänomenale Leistungen entstehen, man sich heute im Sport die Frage stellen muss, ob alles sauber gewesen ist. Ich will niemandem etwas Böses unterstellen. Im Hinblick auf die jüngsten Weltrekorde habe ich keine Bedenken, denn die gute Historie der Läuferinnen und Läufer lässt sich nachvollziehen. Die Weltrekorde kamen nicht wie aus dem Nichts», führte Schindler aus.

Kenia fällt auch negativ auf

Bedenklich ist aber, dass die Läufer-Nation Kenia nicht nur am laufenden Band für Rekorde sorgt, sondern Stand 1. Oktober mit mehr als 60 gesperrten Doping-Sünder – überwiegend Langstreckenläufer – auch auf der Liste der «Athletics Integrity Unit» des Weltverbandes einen Spitzenplatz einnimmt. Immer mehr afrikanische Talente konzentrieren sich auf Halbmarathon und Marathon, weil man auf der Straße mehr Geld als auf der Bahn verdient.

Unbestritten ist aber, dass die Superschuhe die Rekordflut befeuern, wenngleich es auf dem Weg zu Topzeiten mehrere Variablen gibt. «Mir ist schon wichtig, dass der Athlet im Fokus steht. Der Athlet bringt die Leistung, die kommt nicht aus den Schuhen. Klar, vier Prozent können viel ausmachen. Aber nie im Leben purzeln die Rekorde nur wegen der Schuhe», sagt Potthast. Auch in anderen Ausdauersportarten, etwa im Radsport, würden die Leistungen immer besser – «und Radsportler tragen ja nun mal keine Laufschuhe».

Für den Leichtathletik-Weltverband World Athletics (WA) sind die zahlreichen Rekorde kein ungewöhnliches Phänomen. «Im Laufe der Geschichte unseres Sports wurden Weltrekorde immer mit der besten verfügbaren Technologie aufgestellt, und das ist heute nicht anders», erklärte WA auf dpa-Anfrage. Abgesehen von der Technologie seien verbesserte Trainingstechniken, mehr Wettkämpfe, verfeinerte Laufbahnen oder eine ausgeklügeltere Ernährung weitere Gründe für Rekordverbesserungen.

Die allermeisten Hobbyläufer können sich ohnehin die 250 bis 500 Euro für neue Superschuhe sparen. Denn sie sind für Spitzenathleten und nicht für Durchschnittsjogger konzipiert. «Sicher ist, dass solche Schuhe nicht für alle Läufer geeignet sind. Man muss zwar nicht gleich so schnell wie Eliud Kipchoge unterwegs sein, aber schon sehr zügig. Mit der höheren Geschwindigkeit hat man eine andere Position des Körpers über dem Fuß, für einen Otto Normalverbraucher fühlt sich das eher komisch an», sagt Potthast. 

Von Christian Kunz und Andreas Schirmer, dpa