22. November 2024

Sport Express

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Löw und DFB-Spieler zurück im Frankreich-Tunnel

Erst auf dem Trainingsplatz können auch die deutschen Spieler die schrecklichen Bilder von Kopenhagen ausblenden. Das 50. EM-Spiel rückt näher. Gegen Frankreich hilft nicht nur «lieb, lieb, lieb».

Erst die gewohnten Rituale auf dem Fußballplatz halfen auch den deutschen EM-Kickern am Morgen nach dem «Schockmoment» um Christian Eriksen zurück in den Alltags-Modus.

Beim üblichen Kreisspiel musste sich der lautstark schimpfende Verlierer Thomas Müller nicht nur von den Mitspielern am Ohr schnipsen lassen, sondern sogar von Joachim Löw. Ein bisschen Spaß musste sein.

Schockmoment vor dem Bildschirm

Nach dem Drama um Dänen-Star Eriksen schaffte auch das deutsche Nationalteam am Sonntag in Herzogenaurach nur langsam die Rückkehr in eine gewisse Normalität. «Was passiert ist, war ein Schock für uns», berichtete Antonio Rüdiger. Abwehrkollege Lukas Klostermann sprach von «Bildern, die man erstmal verarbeiten muss – definitiv».

Im Lounge-Bereich rund um den Pool hatten etliche Nationalspieler am Samstagabend gemeinsam vorm riesigen TV-Bildschirm miterlebt, wie im 850 Kilometer entfernten Kopenhagen Ärzte um Eriksens Leben kämpften. Es sei «extrem wichtig» gewesen, dass «gute Nachrichten» aus Dänemark ins DFB-Quartier drangen, berichtete der Leipziger Klostermann.

Trotzdem bekam über Nacht zunächst keiner die Bilder aus dem Kopf. Das gelang erst wieder, als der Ball ins Spiel kam. «Wenn man auf dem Fußballplatz steht, kann man vieles ausblenden», sagte Klostermann. Ein Teamfoto mit Genesungswünschen hatte das DFB-Team am Abend zuvor veröffentlicht. Es sei allen «ein Bedürfnis gewesen, positive Energie» an den Profikollegen Eriksen zu senden, so Klostermann.

Vorbereitung auf Frankreich

Die EM-Arbeit musste am Morgen danach dennoch weitergehen – und das mit Elan und Freude. Löw flüchtete zunächst vor den Wasserfontänen eines plötzlich startenden Rasensprengers, als er ins Studium seines Trainings-Spickzettels vertieft war. Stand darauf seine EM-Elf? Oder die geheime Frankreich-Taktik? Oder doch nur eine Trainingsübung? Egal: Die Uhr tickt runter. Der EM-Anpfiff rückt auch für das ganz zum Schluss ins Turnier startende DFB-Team näher.

Die Detailarbeit für die größtmögliche Prüfung am Dienstag (21.00 Uhr) gleich zum Start in die Europameisterschaft ist geleistet. Löw hat «mit jedem Training kleine Schritte nach vorne» registriert, wie er am Ende der gut zweiwöchigen Vorbereitung zufrieden bilanzierte.

«Wir als Mannschaft sind heiß, wir haben richtig Bock. Mit Frankreich wartet definitiv eine der Top-3-Mannschaften der Welt auf uns», sagte Abwehrchef Mats Hummels im ZDF zur EM-Ouvertüre in München. Der Gruppenauftakt gegen die favorisierte Équipe tricolore wird zum großen Praxistest für die vom Bundestrainer auf den letzten Drücker zusammengebastelte EM-Elf. Mit der Busfahrt aus Herzogenaurach zum Münchner Spieltagshotel beginnt am Montagmorgen die letzte Phase.

«Auf dem Papier sieht Frankreich stärker aus, was die Namen angeht. Aber das ist nur Papier», sagte Champions-League-Sieger Rüdiger, den seine Kollegen vom FC Chelsea ehrfürchtig als «Krieger» titulieren. Entsprechend formulierte der robuste Verteidiger den Auftrag gegen Frankreichs Stars: «Wir müssen eklig sein! Nicht nur lieb, lieb, lieb und schön, schön, schön spielen! Wir müssen Zeichen setzen!»

Schwerstmöglicher Auftaktgegner

Löw will bei seiner letzten Mission als Nationaltrainer liefern. Und auch sein kaum eingespieltes Team, dem er mit den Rückkehrern Thomas Müller (31) und Hummels (32) auf den letzten Metern doch noch große Erfahrung hinzugefügt hat. «Wenn man in ein Turnier geht, muss jeder an seine Grenze», sagte Löw in einem ARD-Interview. Sein Konstrukt steht auf tönernen Füßen. Alles muss aufgehen im 50. EM-Spiel der DFB-Elf, in dem sich auch für den 61-Jährigen ein Kreis schließt.

In der 49. EM-Partie vor fünf Jahren war beim Halbfinal-K.o. in Marseille ebenfalls Frankreich der Gegner. Übrigens nach zwei Toren von Antoine Griezmann, der beim Wiedersehen in München eine blaue Schreckens-Offensive mit Kylian Mbappé und Karim Benzema bilden soll. «Frankreich ist einfach individuell überragend gut besetzt», sagte Löw über den schwerstmöglichen Auftaktgegner überhaupt.

Das TV-Erlebnis bei den ersten EM-Spielen hat ihm aber ein Extra gegeben, mit dem er in der Corona-Pandemie nicht rechnen konnte: Den Publikumsjoker. «Das ist erfreulich. Es ist mal wieder gut, wenn Stimmung im Stadion ist», sagte er zum Fan-Comeback. Rund 14.000 Zuschauer dürfen in München dabei sein, das werde hilfreich sein.

Löw: «leidensfähig sein»

Löw hat sich in der Vorbereitung gestrafft. Das sagt jeder im DFB-Tross, der über ihn redet. «Der Bundestrainer ist darauf bedacht, dass er alles aus sich herausholt», bemerkte sein Assistent Marcus Sorg. Das war in jedem Training zu beobachten, ob in Seefeld oder aktuell in Herzogenaurach. Löw wirkt energiegeladen, seine scharfe Wortwahl fällt auf. «Jetzt müssen wir irgendwie durch die Hölle gehen und leidensfähig sein, wenn wir was erreichen wollen», verkündete er.

Jeden stachelt er an, gerade jene Akteure, die den Anpfiff auf Bank oder Tribüne erleben werden. «Die ersten Elf entscheiden in den seltensten Fällen die Spiele. Die Entscheider sind häufig die, die eingewechselt werden», lautet sein Credo, das beim WM-Triumph 2014 in Brasilien aufging. Flanke André Schürrle, Siegtor Mario Götze – so war das damals im Finale von Rio, als die beiden Joker beim 1:0 gegen Argentinien in der Verlängerung zu Turnierhelden wurden.

«Alle müssen für die Stunde X und die Sekunde X bereit sein», fordert Löw. Seine Startelf scheint seit dem 7:1-Test gegen Lettland fix: Vor Neuer verteidigt die Dreierkette Ginter, Hummels, Rüdiger. Davor bilden Kimmich, Gündogan, Kroos und Gosens die Mittelfeldreihe. Vorne wirbeln Müller, Havertz und Gnabry. Die kniffligste Entscheidung ist die Verschiebung von Joshua Kimmich aus dem Zentrum nach rechts, die er dem Bayern-Profi noch in einem Gespräch vermitteln will: «Der Jo spielt sowieso da, wo es das Beste für die Mannschaft ist.»

Von Klaus Bergmann, Jens Mende und Arne Richter, dpa