23. November 2024

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«Kompletter Neuanfang»: Radikalkur für den deutschen Sport?

Die magere Medaillen-Ausbeute in Tokio befeuert die Debatte über Ausrichtung und Strukturen im deutschen Leistungssport. So mancher Experte fordert eine Radikalkur oder gar einen «kompletten Neuanfang».

Für Deutschlands oberste Sportfürsten kommt es knüppeldick. In die Bewältigung der Corona-Krise und den heiklen Umbruch an der Spitze des Dachverbands DOSB drängt mit zunehmender Wucht noch eine Grundsatzdebatte über Ausrichtung und Strukturen des deutschen Leistungssports.

Ausgelöst vom mageren Medaillen-Ertrag bei den Sommerspielen in Tokio werden die Rufe nach einer Radikalkur lauter, die den deutschen Spitzensport fit für die olympische Zukunft machen soll. So mancher Kritiker will den Deutschen Olympischen Sportbund am besten entmachten.

«Der Tanker DOSB ist viel zu träge, um schnell und gezielt auf die Bedürfnisse der einzelnen Sportarten einzugehen», sagte Schwimm-Ikone Michael Groß jüngst dem Portal «t-online.de» und forderte die Einrichtung einer nur für den Hochleistungssport zuständigen Organisation wie es das 2006 im DOSB aufgegangene Nationale Olympische Komitee (NOK) war.

Freitag: NOK-Aus ein Fehler

Auch die Vorsitzende des Bundestagssportausschusses, Dagmar Freitag, hält das damalige Aus für das NOK mehr denn je für einen Fehler. «Persönlich sehe ich mich mittlerweile in meinen früheren Zweifeln hierzu bestärkt», sagte die SPD-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur. Eine reine Leistungssport-Organisation setze «sicher andere Akzente und Schwerpunkte als ein Dachverband, der nach meiner Wahrnehmung seit Jahren vor allem dadurch auffällt, dass er ständig externe Agenturen zur Konzeptentwicklung für unterschiedlichste Dinge beauftragt», fügte Freitag hinzu.

Mit 37 Medaillen, davon zehn goldenen, hatte das deutsche Team in Tokio das schwächste Resultat seit der Wiedervereinigung erreicht. Auch wenn ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, das für den Sport und Millionen an Fördergeldern zuständig ist, dies nüchtern als «recht ordentliches Ergebnis» bezeichnete, gibt der Trend Anlass zur Sorge. «Wir liegen im Vergleich zu den Spielen der letzten Jahre deutlich zurück. Gegenüber Rio sind es 20 Prozent, gegenüber London sogar 25 Prozent», sagte Ulf Tippelt, Leiter des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig, dem MDR.

Für die Sommerspiele 2024 erwartet Tippelt keinen Aufschwung. «Wir werden keine größere Breite an neuen Talenten oder Sportlern haben, die in Paris an den Start gehen. Wir werden im Wesentlichen wohl auf demselben Niveau aufsetzen», sagte der IAT-Chef.

Spitzensportreform soll Wirkung zeigen

Dabei soll doch spätestens ab Anfang nächsten Jahres die mühsam ausgehandelte Spitzensportreform und das für die Mittelvergabe entwickelte System der Potenzialanalyse Wirkung zeigen. Ein rechtes «Gezerre» hat Sportpolitikerin Freitag um die Reform erlebt, wie sie sagt. «Auf massiven Widerstand des organisierten Sports» treffe so manche Maßnahme. «Wir haben in den letzten 15 Jahren genügend Beispiele erlebt, wie durch das politische System DOSB jegliche Reform weichgekocht wird, ein ständiger Ausgleich aller Interessen», sagte Olympiasieger Groß der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».

Wenn Deutschland bei Olympia wieder zurück in die Top Fünf des Medaillenspiegels vorstoßen wolle, bedürfe es im Spitzensport einer Entbürokratisierung, meint der 57-Jährige. Der Fokus müsse sich stärker auf Disziplinen wie Schwimmen, Leichtathletik und Bahnrad richten, in denen bei Sommerspielen viele Medaillen vergeben werden und die Deutschen in Tokio nur wenig Edelmetall holten. Als mögliche Vorbilder gelten Australier und Briten, die mit der stärkeren Konzentration auf medaillenträchtige Disziplinen in Japan erneut deutlich erfolgreicher abschnitten.

«Um Erfolg im Leistungssport zu haben, braucht man sicherlich kein absolutes überbürokratisiertes System», sagte Triathlon-Präsident Martin Engelhardt der dpa. Neben den Briten hätten auch die Norweger zuletzt gezeigt, wie man mit schlanken Strukturen Erfolge fördern könne. Das könne aber auch innerhalb des DOSB geschehen. «Wichtig ist, dass die Leute, die Ahnung und Kompetenz haben, letztlich eigenständig arbeiten können, ohne dass ihnen Besserwisser ständig hereinreden», mahnte Engelhardt.

«Saubere und lückenlose Analyse» angekündigt

Doch wie reformwillig ist der DOSB überhaupt? Verbandschef Alfons Hörmann hat nach Tokio zwar eine «saubere und lückenlose Analyse» angekündigt, wird seinen Posten aber im Dezember nach harter Kritik aus dem Mitarbeiterkreis an seinem Führungsstil räumen. Wer seine Nachfolge antritt und wie umfassend der personelle und inhaltliche Wechsel an der DOSB-Spitze ausfallen wird, ist noch völlig offen.

Leistungssport-Vorstand Dirk Schimmelpfennig sprach davon, die Sportförderung «vereinfachen und entbürokratisieren» zu wollen, wie es in anderen Nationen der Fall ist. Der 59-Jährige, in Tokio Chef de Mission des deutschen Teams, will aber keineswegs die Gelder nur in wenige Sportarten mit Aussicht auf viele Medaillen umlenken. «Wir wollen das in Deutschland immer noch verbinden mit einer Vielfalt. Wir wollen den Sport in Deutschland abbilden», sagte Schimmelpfennig.

Leistungsgedanke «im Keller»

Mit Geld allein lasse sich das Dilemma ohnehin nicht lösen, meinen SPD-Politikerin Freitag und Triathlon-Chef Engelhardt. Es brauche «einen kompletten Neuanfang», sagte Engelhardt. «Die Bedeutung des Leistungssports in unserer Gesellschaft hat dramatisch abgenommen. Der Leistungsgedanke ist, wenn man wissenschaftliche Befragungen im Ländervergleich anguckt, in Deutschland im Keller», erklärte der 61-Jährige.

Deshalb hält Engelhardt «ein umfassendes Sportprogramm für alle, um in der Bevölkerung überhaupt wieder Sportbegeisterung herbeizuführen» für notwendig. In Corona-Zeiten bleiben die Aussichten dafür jedoch trübe. Die vielerorts gestörte Vereinsarbeit, der massive Schwund von Mitgliedern und das teils erlahmte Engagement im Ehrenamt lässt kaum auf eine wachsende Zahl olympischer Talente hoffen. Tokio könnte noch nicht der Tiefpunkt in Deutschlands Olympia-Bilanz gewesen sein.

Von Christian Hollmann und Claas Hennig, dpa