24. November 2024

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Die große Krise des deutschen Fußballs

Die Nationalelf, der Nachwuchs, der größte Club, die entscheidenden Verbände: Die wichtigsten Institutionen des deutschen Fußballs stecken nahezu zeitgleich in der Krise - und das ein Jahr vor der EM.

Anruf bei Felix Magath, die Frage an ihn ist: Warum läuft im deutschen Fußball gerade so viel schief? Der langjährige Nationalspieler und Bundesliga-Trainer lacht kurz auf und sagt dann: «Dafür bräuchten wir mehrere Stunden.»

Genau ein Jahr vor der Europameisterschaft im eigenen Land stecken die wichtigsten Institutionen des deutschen Fußballs in Schwierigkeiten, die sich stark ähneln und teilweise sogar bedingen. Die deutsche Nationalmannschaft scheiterte in der WM-Vorrunde. Der FC Bayern München zerlegte sich als wichtigster deutscher Club auf offener Bühne teilweise selbst. Die Deutsche Fußball Liga suchte monatelang nach einer neuen Führung. Und zuletzt gewann auch die U21-Auswahl als Titelverteidiger kein einziges EM-Spiel. 

Gerade das vorzeitige EM-Aus der deutschen Junioren und die jüngsten Nach-WM-Auftritte der Nationalelf nennt der ehemalige U21-Coach Stefan Kuntz «eine Art Blauer Brief für den deutschen Fußball». Das sei «eine letzte Warnung», sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Das Nachwuchsproblem

Die verpflichtende Einführung von Nachwuchsleistungszentren in den Proficlubs war zu Beginn des Jahrtausends einer der wichtigsten Gründe für den steilen Aufstieg der deutschen Nationalmannschaft: von der EM-Lachnummer 2000 zum Weltmeister 2014. Mittlerweile sind sich viele Experten aber auch einig: Was in den Zentren gelehrt und wie es vermittelt wird, ist eine der Hauptursachen für die aktuelle Krise.

«Wir haben im Ländervergleich den Anschluss an die europäische Spitze klar verloren», sagte Joti Chatzialexiou, der Sportliche Leiter der Nationalmannschaften beim Deutschen Fußball-Bund. Im deutschen Nachwuchsfußball werden keine Spezialisten mehr ausgebildet. Es fehlen Mittelstürmer, Außenverteidiger, Individualisten.

Der langjährige Jugendtrainer Gora Sen und der Sportwissenschaftler Leo-Jonathan Teßmann haben darüber ein Buch geschrieben: «Denkfabrik Nachwuchsfußball. Wie können wir es besser machen?» In einem Interview des Berliner «Tagesspiegels» sagte Sen, dass die Leistungszentren «im Grunde zu Fabriken verkommen sind», in denen alles akademisiert und in taktische Schemata gepresst werde. «Deshalb haben wir lauter unvollständige Hybridspieler, die von allem ein bisschen sind, aber für nichts mehr richtig stehen.»

Genau diese Fehlentwicklung ist nach Meinung von Magath schon lange absehbar. «Seit 2014 hat sich eine Abwärtsspirale entwickelt. Jede Kritik wurde ignoriert oder der Kritiker in eine Ecke gestellt», sagte der 69-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. «Ich habe 2011 schon die Nachwuchsarbeit kritisiert. Wenn ich zwölf Jahre später höre, dass keine Stürmer und Innenverteidiger nachkommen, denke ich mir: was für ein Wunder.»

Das Führungsproblem

Nur wenige Minuten nach dem Gewinn der deutschen Meisterschaft erfuhren die Spieler noch auf dem Rasen, dass der FC Bayern München gerade seinen Vorstands- und seinen Sportchef gefeuert hat. Der neue Vorstandsvorsitzende Jan-Christian Dreesen wollte den Club eigentlich in diesem Sommer verlassen. Ein Nachfolger für Hasan Salihamidzic ist noch gar nicht gefunden.

Dass an der Spitze ein Führungsvakuum herrscht und gemeinsame Strategien nur schwer oder gar nicht zu finden sind, ist ein allgegenwärtiges Problem im deutschen Fußball. Beim DFB ist Bernd Neuendorf bereits der vierte Präsident in nur acht Jahren. Bei der Deutschen Fußball Liga hielt sich Donata Hopfen bloß ein Jahr an der Spitze. 

Wenn die beiden neuen Geschäftsführer Marc Lenz und Steffen Merkel in der nächsten Woche übernehmen, ist das größte Problem der Dachorganisation der 36 deutschen Proficlubs noch längst nicht gelöst: Die Unfähigkeit dieser 36 Clubs, einen gemeinsamen Weg zu finden und Eigeninteressen hinten anzustellen. Ist ihnen ein möglichst ausgeglichener nationaler Wettbewerb wichtiger? Oder die internationale Konkurrenzfähigkeit einiger weniger Clubs?

«Es gibt ein Führungsproblem im deutschen Fußball», sagte Magath. «Es traut sich kaum jemand mehr, Entscheidungen zu treffen. Alle versuchen, nicht anzuecken.»

Was im deutschen Fußball noch hinzukommt: Wenn es nicht läuft, geht der Blick gern zurück. Beim FC Bayern entscheiden Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge vorerst wieder über Transfers. Der neue Sportdirektor der Nationalmannschaft – Rudi Völler – war bis vor 19 Jahren auch schon ihr Trainer.

Hoeneß bei den Bayern, Völler bei Bayer Leverkusen, der DFL-Aufsichtsrats-Chef Hans-Joachim Watzke bei Borussia Dortmund: Sie alle haben über Jahre die wichtigsten Clubs des Landes geprägt und dabei auch entscheidende Weichenstellungen für den deutschen Fußball versäumt. Trotzdem hat genau die Krise, die dadurch mit ausgelöst wurde, ihren Einfluss wieder gestärkt. «Das Problem ist, dass man etwas kontrollieren und analysieren lässt von Leuten, die Teil des Systems sind», sagte Magath.

Das Einstellungsproblem

Videoanalyst des nächsten deutschen Länderspiel-Gegners zu sein, war in den vergangenen Monaten ein dankbarer Job. Er hätte auch Bewegtbilder vom FC Bayern München oder der deutschen U21 vorspielen können, denn die wichtigsten Teams des deutschen Fußballs offenbarten zuletzt die nahezu gleichen Schwächen: eine große Anfälligkeit bei kompakter Abwehrarbeit, kerniger Zweikampfführung und schnellen Kontern.

«Wir haben unsere Identität verloren», klagte Magath. Oder wie es Stefan Kuntz über die deutsche U21 sagte: «Ich habe den Spieler vermisst, der auf dem Bolzplatz vor Zorn heult und sich ärgert, weil er 0:1 verloren hat.»

Die Kritik an der Einstellung hat für den 60-Jährigen ebenfalls etwas mit der Nachwuchs-Ausbildung zu tun. «Den Jungs wird alles abgenommen, sie müssen selbst gar keine Konflikte mehr lösen», sagte Kuntz. «Wenn sie nicht spielen, reden die Eltern mit dem Trainer. Wenn es Probleme in der Schule gibt, gehen die Eltern zum Lehrer. Da wird viel zu wenig auf Eigenverantwortung gesetzt. Das ist nicht nur ein Fußball-Problem, sondern ein gesellschaftliches.»

Von Sebastian Stiekel, Felix Schröder und Miriam Schmidt, dpa