Kurz nach dem Jahreswechsel versammelt Alfred Gislason seine 19 Auserwählten für die Handball-Europameisterschaft zum Lehrgang in Großwallstadt. Im dpa-Interview spricht der Bundestrainer über die Vorbereitung, die EM-Ziele und generelle Probleme im deutschen Handball.
Herr Gislason, wie haben Sie die Weihnachtstage verbracht?
Alfred Gislason: Gemeinsam mit meinen Kindern und Enkelkindern in Island.
Konnten Sie ein wenig vom Handball abschalten oder war das angesichts der bevorstehenden Europameisterschaft nicht möglich?
Gislason: Ich habe einen Teil des Tages zur weiteren EM-Vorbereitung genutzt und anschließend Zeit mit meiner Familie verbracht. Das hat ganz gut geklappt.
Sie haben für die Endrunde etliche Absagen erhalten, zudem lässt die Corona-Krise einmal mehr kein ungezwungenes Handball-Fest zu. Empfinden Sie dennoch etwas Vorfreude?
Gislason: Ich freue mich auf das Turnier. Ich bin gespannt, was wir mit dieser jungen Mannschaft auf die Beine stellen können. Ich freue mich einfach auf die Arbeit mit der Mannschaft.
Worauf werden Sie den Fokus in der EM-Vorbereitung legen?
Gislason: Wir müssen alles trainieren und einstudieren, können nichts auslassen. Abwehr, Angriff, Tempospiel, Positionsspiel.
Im Kader stehen nur noch wenige Routiniers. Sind die bei einem Turnier besonders gefragt als Führungsfiguren?
Gislason: Natürlich erwartet man von den älteren und erfahrenen Spielern, dass sie eine Führungsrolle übernehmen. Das wird auch wichtig sein, denn wir haben insgesamt eine junge und unerfahrene Mannschaft. Aber wir müssen die Aufgaben auf alle Schultern verteilen.
Im 19-köpfigen Kader stehen gleich neun Turnier-Neulinge. Was zeichnet die nachrückende Generation aus?
Gislason: Viele dieser Spieler waren bei den Junioren schon sehr erfolgreich. Einige haben etwas Zeit gebraucht, sich an die Bundesliga zu gewöhnen, aber es sind fraglos große Talente dabei.
Medaille «weit weg»
Angesichts des personellen Umbruchs verbietet es sich fast, eine Medaille als Ziel auszugeben. Oder träumt man insgeheim doch ein wenig von einer Überraschung?
Gislason: Wir sind kein Kandidat für eine Medaille, deshalb reden wir auch nicht davon. Das ist momentan weit weg. Wir konzentrieren uns zuerst auf die Vorrundengruppe, die sehr ausgeglichen ist. Natürlich wollen wir die Hauptrunde erreichen, aber das wird nicht einfach.
Sie treffen auf Belarus, Österreich und Polen. Welchen Gegner schätzen Sie als den stärksten ein?
Gislason: In dieser Gruppe kann jeder jeden schlagen. Aber die Belarussen und Polen haben sicher mit Abstand die meisten Spieler, die regelmäßig in der Champions League spielen.
Was fehlt der deutschen Mannschaft derzeit – außer der Erfahrung – zur Weltspitze?
Gislason: Jede Menge eigentlich, insbesondere im Rückraum. Wir haben momentan sicher nicht die Superstars. Da sind uns andere Nationen voraus. Wir müssen versuchen, das über mannschaftliche Geschlossenheit auszugleichen.
Sie haben vor knapp zwei Jahren das Amt des Bundestrainers übernommen. Kurz darauf kam Corona mit vielen Einschränkungen, dann eine WM mit vielen Problemen und einem schwachen Abschneiden und schließlich lief es auch bei Olympia nicht wie erhofft. Denken Sie manchmal: Oh Gott, was habe ich mir da angetan?
Gislason: Nein, aber natürlich hätte ich mir vieles anders gewünscht. Ich mache den Job weiter mit sehr großem Elan und bin überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Trauen Sie der jungen Generation zu, in absehbarer Zeit wieder zu den Top-Nationen zu zählen?
Gislason: Dafür ist es noch zu früh. Man muss erst einmal sehen, wie sich die Mannschaft entwickelt. In ihr steckt Talent, aber es muss auch vieles passen. Vor allem muss man Bedingungen schaffen, dass die Spieler dauerhaft und möglichst lange für Deutschland auflaufen wollen und wir immer unter den Besten auswählen können.
Absagen «differenziert betrachten»
Das war zuletzt oft nicht der Fall und wurde auch öffentlich kritisiert. Sind Sie ein wenig enttäuscht darüber, dass offenbar nicht bei allen Spielern der unbedingte Wille zu spüren ist, für die Nationalmannschaft aufzulaufen?
Gislason: Das muss man differenziert betrachten. Die hohe Belastung trifft vor allem die Spieler aus den Top-Clubs der Bundesliga. In anderen Ländern ist das nicht so. Die vielen Spiele sind nicht das Problem der Spieler, sondern dass sie für nichts anderes mehr Zeit haben. Kaum Urlaub, kaum Regeneration. Der norwegische Nationaltrainer freut sich nicht umsonst über jeden seiner Auswahlspieler, der die Bundesliga verlässt. Gerade die vergangene Corona-Saison war schon extrem. Es geht also nicht nur um Mentalität und Werte der Spieler. Man muss auch die Bedingungen für die Spieler schaffen, mit denen diese klar kommen können.
Zur Person: Alfred Gislason (62) absolvierte 190 Länderspiele für Island und spielte in der Bundesliga von 1983 bis 1988 für TUSEM Essen. 1991 begann er seine Trainerlaufbahn, die ihn 1997 erneut nach Deutschland führte. Nach Stationen in Hameln, Magdeburg und Gummersbach betreute er elf Jahre lang mit großem Erfolg den THW Kiel. Seit Anfang Februar 2020 ist er Bundestrainer.
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