25. November 2024

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Bayerns Wut und Leere: «Nächstes Jahr schlagen wir zurück»

Dieser Tag markiert eine Zäsur beim FC Bayern. Das Drama im Bernabéu lässt das deutsche Wembley-Finale platzen. Nach dem ersten titellosen Jahr seit 2012 ruft der Boss ein «großes Ziel» aus.

Die Wut, den Frust, die Leere – das nahmen die leidenden Bayern nach einer der bittersten Münchner Fußball-Nächte aus Madrid mit zurück. Schwer geschlagen machte sich das Team um den emotional extrem aufgewühlten Trainer Thomas Tuchel und den mit seinem unentschuldbaren Torwartfehler kämpfenden Manuel Neuer an die Trauerarbeit. 

Alles verspielt, alles verloren – nach einem weiteren Münchner Champions-League-Drama beim 1:2 (0:0) gegen Real Madrid gibt es am 1. Juni in London keine grandiose deutsche Wembley-Neuauflage gegen Borussia Dortmund. Die erste titellose Bayern-Saison seit 2012 endet vielmehr in einem tristen Rahmen mit Tuchels Abschiedsspiel am 18. Mai in der Bundesliga bei der TSG Hoffenheim. 

Wie 1999 in Barcelona – und Neuer wie Titan Kahn 2002

«Wir sind einfach sauer, wir haben alles da draußen gelassen», klagte Tuchel mit feuchten Augen. Vor allem bei seiner Wutrede gegenüber dem Schiedsrichtergespann rang der 50-Jährige um Fassung. «Es war ein richtiger Fight. Wir setzen den Punch und sind fast über die Ziellinie.» Und dann entglitt seiner Mannschaft durch Reals Doppelpack-Joker Joselu doch noch der Sieg im nun schon seit Jahren verfluchten Bernabéu. Real überlebt einfach immer.

Es mutete aus Bayern-Sicht an wie 1999 im Finale gegen Manchester United mit den Last-Minute-Toren zum 2:1 der Engländer. Und der am Mittwochabend lange wie ein Titan haltende Neuer musste sich fühlen wie Oliver Kahn nach dem brutalen Fehler im WM-Finale 2002 beim 0:2 der Nationalmannschaft gegen Brasilien. «Ich fühle mich schlecht», stammelte Neuer. Verrückt: Ex-Vorstandsboss Kahn erlebte die Neuer-Tragik live auf der Tribüne mit. 

Der 8. Mai 2024 markiert eine Zäsur im Bayern-Kosmos, in dem nur Sieger und Titel zählen. Und wo auf totale Saison-Desaster schon immer mit Wucht und großen Investitionen reagiert wurde. Vereinspatron Uli Hoeneß war in Madrid dabei – und er wird nun kaum ruhen daheim am Tegernsee. Vorstandschef Jan-Christian Dreesen war in der Nacht zum Donnerstag aber der Erste, der im Teamhotel mit einer Kampfansage öffentlich nach vorn preschte. Der 56-Jährige erinnerte in seiner Bankettrede an das traumatisch verlorene Königsklassen-Finale 2012 in der heimischen Arena gegen den FC Chelsea. 

2025 neues Finale dahoam – aber erstmel muss ein Trainer her

Dreesen nestelte einen Zettel aus seinem Sakko und las dann vor: «Thomas Müller hat einen Tag nach dem Finale dahoam in den Mannschafts-Chat geschrieben: „Kopf hoch, Jungs. Das, was gestern passiert ist, tut extrem weh. Aber nächstes Jahr schlagen wir zurück.“» 

Und genau das wolle er als Boss jetzt auch den Bayern-Profis des Jahrgangs 2024 sagen: «Kopf hoch! Ihr habt fantastisch gespielt, ihr könnt euch nichts vorwerfen. Unser Ziel muss sein, dass wir ab morgen den Blick nach vorn richten.»

Dann kam die Ansage, welche die kommenden zwölf Bayern-Monate prägen soll: «Wir haben nächstes Jahr das Champions-League-Finale zu Hause. Das ist jetzt unser großes Ziel. Das ist letzten Endes das, was wir als unseren Mia san mia-Reflex bezeichnen. Das sollte uns leiten», verkündete Dreesen in Richtung des mit leerem Blick zuhörenden Kapitäns Neuer, des 1:0-Schützen Alphonso Davies und der vielen Edelfans. In der Madrider Fünf-Sterne-Herberge «Villa Magna» hatten sie nichts Großes zu feiern.

Ein Reflex wie nach den drei zweiten Plätzen 2012, dem der damals nicht gefeuerte Jupp Heynckes das triumphale Triple-Jahr 2013 folgen ließ? Dafür müssen die Bayern-Bosse um Sportvorstand Max Eberl nach etlichen Trainer-Absagen als Erstes einen Nachfolger für Tuchel präsentieren. Der Kader benötigt frische Impulse und «Mia-san-mia»-Fußball.   

Dreesen haderte wie Tuchel, Neuer oder auch Eberl damit, «den großen Traum, eine außergewöhnlich gute Champions League-Saison nicht mit dem deutschen Finale in Wembley krönen zu können». Dortmund gegen Real lautet der Kampf um den Titelgewinn. «Es wird sicherlich ein spannendes Spiel», sagte Dreesen mit Leidensmiene.

Im Tollhaus Bernabéu hatten die Bayern bis zur unseligen 88. Minute vielen Widerständen standgehalten. Alle vier aufgebotenen Offensivkräfte – Gnabry (nächste Muskelverletzung), Sané, Musiala und Torjäger Harry Kane, bei dem der Rücken zumachte, musste Tuchel auswechseln. Und dann war da auch noch ein Abseitspfiff, der die Münchner kollektiv empörte. Das 2:2 von Matthijs de Ligt in der 13. Minute der Nachspielzeit zählte nicht. 

Tuchels Schiri-Schelte: «Nicht der Moment für Entschuldigungen»

Tuchel konnte seine Wut auf das Schiedsrichtergespann um Szymon Marciniak kaum zügeln im Pressesaal. Der 43 Jahre alte Pole hatte zu früh gepfiffen, als der Ball in Reals Strafraum flog und der Assistent an der Seitenlinie die Fahne hochriss. So konnte nach de Ligts Schuss ins Tor die Szene nicht mehr per Videobeweis überprüft werden. Marciniak entschuldigte sich nach dem Schlusspfiff bei den Bayern, wie de Ligt aufgebracht berichtete.

«Natürlich nehmen wir die Entschuldigung als Sportsmänner an», sagte Tuchel: «Aber es ist ein Halbfinale. Es ist nicht der Moment für Entschuldigungen, ehrlich nicht.» Dann redete sich der um ein Bayern-Happy-End gebrachte Coach in Rage. «Alle müssen ans Limit. Alle müssen leiden. Alle müssen fehlerfrei spielen. Da müssen halt die Schiedsrichter auf diesem Niveau das auch tun», sagte er mit fast überschlagender Stimme. 

Bei jedem seiner Zornessätze haute er mit der Hand aufs Podium. «Das hilft halt nicht, wenn du nachher Entschuldigung sagst. Wenn du nicht liefern kannst, hilft das nicht», schimpfte Tuchel über den renommierten Spielleiter des WM-Endspiels 2022.

«Von 10.000 Mal hält Manu den Ball 10.000 Mal»

Der große Verlierer des Abends war aber Manuel Neuer mit seinem Fehler vor dem 0:1. Den Schuss von Real-Angreifer Vinicius Junior schätzte er falsch ein und ließ ihn nach vorn auf Torschütze Joselu abprallen. «Von 10.000 Mal hält Manu den Ball 10.000 Mal. Das ist das 10 001. Mal», meinte Tuchel. Er fühlte mit dem 38 Jahre alten Nationaltorhüter, der sich nach seinem Beinbruch bei einem Skiunfall nach der WM 2022 nach einer monatelangen Reha ins Tor zurückgekämpft hatte. Er war bis zum 1:1 Reals Albtraum an diesem Abend. 

«Das ist ausgeschlossen, dass Manu einen Fehler macht. Und er macht ihn ausgerechnet heute nach dem Weltklassespiel. Das ist so was von bitter», sagte Tuchel. «Denn wenn es irgendjemanden gibt, der das nicht verdient hat, dann ist es Manu. Wir wissen, wo er herkommt. Wir wissen, was er geschuftet hat, was er getan hat dafür. Niemand wird mit dem Finger auf ihn zeigen. Er ist der Unglücklichste von allen.»

In der Tat. «Wir waren mit einem Schritt schon im Finale», stöhnte Neuer. Der 38-Jährige aber ist stark im Kopf. Prognose: Neuer wird eine bärenstarke Heim-EM spielen wollen.

Von Klaus Bergmann, dpa