24. November 2024

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Vielseitigkeits-EM für Ingrid Klimke mehr als ein Titel

Eine schwere Verletzung nach einem Sturz verhindert den Olympia-Start von Ingrid Klimke in Tokio. Die Vielseitigkeitsreiterin muss pausieren. Erst nach Wochen meldet sie sich bei einem Turnier zurück - und gewinnt.

Die Folgen ihres schweren Sturzes spürt Ingrid Klimke am wenigsten, wenn sie auf einem Pferd sitzt. Nur wenn die Ausnahme-Vielseitigkeitsreiterin absteigt, stört sie bisweilen die Schwäche im linken Arm im normalen Alltag.

Dass die 53-Jährige aus Münster nur so kurze Zeit nach dem Unfall Ende Mai wieder im Sattel sitzt und nun bei den Europameisterschaften im schweizerischen Avenches wieder um Titel reitet, ist Ergebnis ihres Willens und ihres Optimismus – und ein kleines Wunder.

«Es hätte auch schlimmer ausgehen können», sagt Klimke. Beim Vielseitigkeitsturnier in Baborówko in Polen war sie am 30. Mai mit ihrer jungen Stute Cascamara gestürzt. «Ein Missverständnis» zwischen ihr und dem Pferd, wie sie der «Frankfurter Allgemeine Zeitung» erklärte. Cascamara blieb an einem Hindernis hängen. Klimke fiel, die Stute stürzte neben sie. Als das Pferd aufstand, rollte es sich über seine Reiterin. Das Schreckensszenario aller Vielseitigkeitsreiterinnen und -reiter.

Brustbein gebrochen

Klimkes Brustbein wurde bei dem Unfall gebrochen, das Schlüsselbein nach innen gesprengt. Die Luftröhre wurde dadurch gedrückt. Das Atmen, das Sprechen und auch das Schlucken fielen ihr lange schwer. Ihr Glück war, dass Teamarzt Manfred Giensch bei dem Unfall dabei war. Auf dem Rückweg nach Münster betreute sie Tochter Greta (19).

Sechs Wochen war Klimke mehr oder minder ruhig gestellt. Für jemanden wie sie, die einen kaum zu stoppenden Aktivitätsdrang hat, etwas Ungewohntes. Denn sie ist nicht nur Berufsreiterin, leitet ihren eigenen Stall und bildet Pferde aus. Sie arbeitet auch als Dozentin bei Lehrgängen, ist sozial vielfältig engagiert, schreibt Bücher, gibt zwei Mal im Jahr ein Magazin mit ihrem Namen als Titel heraus.

Doch nun wurde Geduld von ihr gefordert. Intensive Physiotherapie stand auf ihrem Tagesprogramm. Nach neun Wochen durfte sie erstmals wieder auf ein Pferd steigen – ein Gefühl wie eine Befreiung. Schon Mitte August war Klimke mit Hale Bob bei einem Turnier in Belgien unterwegs. Und der 17 Jahre alte Wallach trug sie förmlich zum Sieg.

Olympia verpasst

Neben den Verletzungen schmerzte es sie, ihre sechste Olympia-Teilnahme zu verpassen. Die Goldmedaille für Julia Krajewski mit Amande de B’Neville und das deutsche Pech im Team-Wettbewerb in Tokio verfolgte die zweimalige Olympiasiegerin am Fernseher.

Ihre Lockerheit und ihre Offenheit im Umgang mit Menschen haben Ingrid Klimke zu einer Vorzeigefrau des deutschen Reitens gemacht. Ihr Standing zeigte sich im Zuspruch von allen Seiten in dieser Zeit. «Das tat sehr gut», sagt sie.

Vor allem der Besuch von Bundestrainer Hans Melzer half ihr. Nur wenige Tage nach dem Unfall war der 70-Jährige bei ihr, besprach den Plan für sie für den Rest der Saison. Und auf dem hat die EM oberste Priorität. «Für mich ist das der Ausgleich für die verpassten Olympischen Spiele», sagt sie.

Viele Nachwuchspferde

Für viele Spitzen-Reiter ist die EM der Abschluss des Olympia-Sommers. Sie gönnen ihren Top-Pferden nach den Tokio-Wettbewerben längst eine Pause und satteln eher Nachwuchspferde. Wie der dreimalige Olympiasieger Michael Jung, der statt seines Olympia-Pferdes Chipmunk mit WildWave anreist.

Für Klimke fängt die Saison in Avenches mit der EM vom Donnerstag an erst richtig an. Mit Hale Bob kann ihr etwas Ungewöhnliches gelingen: zum dritten Mal nacheinander den EM-Titel mit demselben Pferd gewinnen. Ziele hat Klimke auch nach über 20 Jahren in der Weltklasse noch immer. Und nach der Verletzung erst recht. «Man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie nicht mehr reitet», meint Bundestrainer Melzer.

Paris als Ziel

Olympia in Paris 2024 ist so ein Ziel für Ingrid Klimke. Exzellente Pferde hat sie genug – und nicht nur für die Vielseitigkeit. Mit Franziskus gehört sie auch dem deutschen Olympia-Kader in der Dressur an. Ein Doppel-Start bei Olympia wäre ein Novum im deutschen Reiten.

Zweifel an dem, was sie tut, hat sie nicht bekommen. Eher im Gegenteil. «Ich mache das, was ich am liebsten mache», hat sie aus ihrer Zwangsauszeit als Gewissheit mitgenommen. Dass ihr Sport gefährlich ist, weiß sie. «Autofahren finde ich aber noch gefährlicher.»

Von Claas Hennig, dpa