Nach dem Thriller von Tokio suchte der mit seinen Gefühlen kämpfende Dimitrij Ovtcharov die Einsamkeit auf der leeren Tribüne und wollte die Stimmen seiner Liebsten hören.
Der ehemalige Weltranglistenerste verpasste in einem Wahnsinnsduell als erster deutscher Tischtennisspieler den Einzug in ein Olympia-Finale nur hauchdünn. Momente später setzte sich der 32-Jährige mit seinem Handy am Ohr auf die verwaisten Ränge des Tokyo Metropolitan Gymnasium und rief seine Frau Jenny sowie seinen Vater Mikhail an
«Ohne meine Familie könnte ich das gar nicht machen. Die ganzen Turniere und das harte Training, was ich durchziehe, das ist im Sport wirklich sehr sehr hart. Das ist schwer, alles allein so zu bewältigen. Da wollte ich einfach die Stimme von ihnen hören», sagte der hochemotionale Ovtcharov nach einem der besten und denkwürdigsten Spiele seiner Karriere, das ihm aber die Chance auf Bronze nicht geraubt hat. «Sie haben mir sehr aufmunternde Worte zugerufen, und das tut natürlich gut in diesem harten Moment.»
Starkes Match gegen Ma Long
Das Fünf-Sterne-Duell mit dem chinesischen Weltklassespieler Ma Long, der schon 2016 in Rio de Janeiro Gold gewonnen hatte, hätte eine volle Arena verdient gehabt. Im entscheidenden siebten Satz wehrte Ovtcharov sogar zwei Matchbälle ab – nach dem von seinem Kontrahenten verwandelten dritten sank er zu Boden. «Leere und tiefer Schmerz» sei da gewesen, sagte Ovtcharov nach dem 3:4 (11:13, 8:11, 11:9, 11:9, 7:11, 11:5, 9:11). «Ich konnte es gar nicht fassen, dass das Spiel tatsächlich vorbei war.»
Es war die 19. Niederlage im 19. Duell mit Ma Long – die Partie durfte sich aber wie ein Triumph zumindest anfühlen. Seinen Traum von der zweiten Einzelmedaille nach Bronze 2012 in London kann er sich am Freitag (13.00 Uhr/MESZ) gegen Lin Yun-Ju aus Taiwan noch erfüllen.
«Das weiß nur Gott, was da gefehlt hat», meinte Ovtcharov, der schon tags zuvor im Viertelfinale gegen den Brasilianer Hugo Calderano nach einem 0:2-Satzrückstand zurückgekommen war. «Ich habe nie besser gespielt, spielerisch und taktisch», befand der sehr reflektierte Profi von Fakel Orenburg in Russland.
«Ein Wahnsinnsspiel»
Ma Long wusste seine Vorhand einzusetzen, Ovtcharov setzte seine Rückhand dagegen. Und dann gab es 81 Minuten lang Entertainment deluxe. «Es war von Anfang an ein Wahnsinnsspiel», meinte Bundestrainer Jörg Roßkopf, der 1996 in Atlanta Bronze bei Olympia gewonnen hatte. 16 Jahre später tat es ihm Ovtcharov gleich.
Bis zum Ende «extrem spannend und hochklassig, was man selten sieht», sei das Halbfinale gewesen, sagte Roßkopf weiter, der gewohnt mit dosierter Gestik, Mimik und Lautstärke von hinter der Bande coachte. «Ich war zufrieden vom ersten bis zum letzten Ballwechsel. Es gab selten ein besseres Spiel, aber am Ende zählt das Ergebnis.»
Leere Halle
Sportdirektor Richard Prause war von dem Niveau beeindruckt. «Das war eines der besten Spiele, die ich überhaupt jemals gesehen habe, von der Qualität, von der Dramatik, von der Art und Weise, wie Tischtennis gespielt wurde», sagte der Funktionär in der wegen der Corona-Maßnahmen leeren Halle. «Das war Tischtennis der nächsten Stufe.»
Sollte Ovtcharov nun nochmal eine ähnliche Leistung gelingen, dann wird er über Bronze jubeln. «Es ist unsere Aufgabe, Dima aufzubauen für das Spiel», sagte Roßkopf. Aus dieser Leistung müsse er Mut schöpfen. «Mit so einer Leistung gewinnt man hier Medaillen.»
Weitere Nachrichten
Spaniens «wunderbare Mannschaft» fordert DFB-Elf
Pogacar über Gelbes Trikot überrascht: «Fühlt sich gut an»
Tedescos Belgier haben Spaß vor Achtelfinale