22. November 2024

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Turn-Star Biles und mentale Probleme im Spitzensport

Druck und «Dämonen» haben Simone Biles zu einem außergewöhnlichen Schritt bewogen. Der US-Turnstar zieht sich aus einem Finale zurück und spricht über psychische Probleme.

Auf einmal war alles zuviel. In einem denkwürdigen Olympia-Finale hat Simone Biles die «Last der Welt» abgeworfen – und einen Tag später sogar ihren Start im Einzel-Mehrkampf abgesagt.

Ein mutiger und außergewöhnlicher Schritt im Spitzensport, in dem Athletinnen und Athleten gewöhnlich funktionieren (müssen). Nur selten offenbaren sie Schwächen oder mentale Schwierigkeiten. Öffentlich über psychische Probleme oder Krankheiten wie Depressionen reden die wenigsten. Auch Tennisstar Naomi Osaka hatte Ende Mai für Aufsehen gesorgt und Debatten ausgelöst. Die Japanerin zog sich bei den French Open zurück und sprach über längere Depressionsphasen.

Zuspruch von Teresa Enke

«Ich freue mich, dass sich die Sportlerinnen und Sportler trauen», sagte Teresa Enke, die Vorstandsvorsitzende der Robert-Enke-Stiftung, der Deutschen Presse-Agentur und betonte: «Ich habe ja schon bei Naomi gesagt, dass sie etwas lostritt.» Die 45-Jährige ist die Witwe des früheren deutschen Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke, der sich 2009 das Leben nahm. Ihre Stiftung finanziert die Erforschung und Behandlung von Depressionen. Osaka hatte für ihre Krankheit auch medialen Druck verantwortlich gemacht, dem sie sich ausgesetzt fühle. Biles sprach über ihre «mentale Gesundheit».

So wenig sich Fälle wie diese vergleichen lassen und so sensibel und differenziert der Umgang mit Begriffen und Krankheiten sein muss – es zeigt sich doch ein zumindest aktuell veränderter Umgang mit dem Thema. Psychologische Probleme seien bei vielen Menschen immer noch ein Tabuthema, sagte der Sportpsychologe Jens Kleinert der Deutschen Presse-Agentur. Der Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie von der Sporthochschule Köln sieht im öffentlichen Eingestehen von mentalen Problemen «das richtige Signal». Dies habe «auch eine gewisse Vorbildfunktion für andere Sportler und Sportlerinnen, dass man darüber reden darf.»

Zuspruch von allen Seiten

US-Superstar Simone Biles setzte in dem Moment, als die Leichtigkeit des Turnens abhanden kam, ein Zeichen. Aus Selbstschutz folgte die 24-Jährige der Vernunft: Die viermalige Olympiasiegerin von Rio de Janeiro 2016 zog sich am späten Dienstagabend in Tokio aus dem Mannschaft-Finale zurück und überließ ihren drei Team-Kolleginnen Sunisa Lee, Jordan Chiles und Grace McCallum die Bühne. Für ihren mutigen Schritt bekam sie Zuspruch von allen Seiten.

«Gerade bei den Turnerinnen weiß man ja, dass da ein enormer Druck ist. Das war ja schon immer so. Dass da jemand sagt, ich kann nicht mehr, ich muss mich selbst schützen, ich muss meine Mannschaftskolleginnen schützen, finde ich wahnsinnig toll und stark», sagte Teresa Enke. Dies habe nichts mit Schwäche zu tun. «Diese Frau ist stark. Sie denkt an sich. Ihre Gesundheit ist ihr wichtiger als der sportliche Erfolg.»

Mit der Silbermedaille um den Hals sprach Simone Biles anschließend mit schonungsloser Offenheit über ihre psychischen Probleme und die Gründe ihrer Aufgabe. «Ich sage, die mentale Gesundheit steht an erster Stelle. Daher ist es manchmal in Ordnung, die großen Wettbewerbe sogar auszusitzen, um sich auf sich selbst zu konzentrieren. Es zeigt, wie stark du als Wettkämpfer und Person wirklich bist, anstatt sich einfach durchzukämpfen», sagte Biles und sprach vom «Kampf gegen Dämonen» vor dem Wettkampf.

Am Mittwoch zog sie die nächste Konsequenz und sagte ihren Start im Einzel-Mehrkampf am Donnerstag (12.50 Uhr MESZ) ab. Für das Finale hatte sich Biles trotz zahlreicher Schnitzer mit 57,731 Punkten als Beste qualifiziert. Wie der US-Turnverband mitteilte, sei die Entscheidung nach einer medizinischen Bewertung gefallen, um den Fokus auf ihre mentale Gesundheit zu richten.

«Zeigt einmal mehr, warum sie Vorbild ist»

«Simone wird weiterhin täglich bewertet, um herauszufinden, ob sie in den Einzel-Finals in der kommenden Woche teilnehmen kann», schrieb der Verband. Die Geräte-Entscheidungen finden vom 1. bis 3. August im Ariake Gymnastics Center statt. «Ihr Mut zeigt einmal mehr, warum sie ein Vorbild für so viele ist», schrieb USA Gymnastics.

In der Interviewzone sprach Biles auch über das Gefühl, nicht mehr selbst über sich und ihren Sport bestimmen zu können. «Diese Olympischen Spiele wollte ich für mich haben und ich kam hierher und dachte, dass ich es weiter für andere Leute mache. Das schmerzt mein Herz sehr. Das zu tun, was ich liebe, ist mir irgendwie genommen worden, um anderen Menschen zu gefallen», sagte sie.

Für ihre Offenheit erntete die 19-malige Weltmeisterin Respekt, Anerkennung und eine Welle der Sympathie bis hin zum Weißen Haus. «Dankbarkeit und Unterstützung sind das, was Simone Biles verdient», twitterte Sprecherin Jen Psaki. Biles sei immer noch die Größte, «und wir alle haben das Glück, sie in Aktion sehen zu können».

«Du bist ein wahrer Champion!»

Auch Sportler reagierten mit Hochachtung. Spaniens Basketball-Star Pau Gasol, der sich zur Wahl als Athletensprecher im Internationalen Olympischen Komitee stellt, sicherte Biles seine Unterstützung zu. «Mentale Gesundheit ist ein wichtiger Bestandteil unserer Gesundheit und muss immer Priorität haben. Wir brauchen eine Sportwelt, die das emotionale und mentale Wohlbefinden in den Fokus rückt», schrieb der ehemalige NBA-Champion auf Twitter und fügte an Biles gewandt an: «Danke, dass Du Deine Plattform genutzt hast, Du bist ein wahrer Champion!» Die französische Schwebebalken-Europameisterin Melanie De Jesus Dos Santos sagte: «Ich denke, sie hat das Richtige getan.»

Schon am Tag zwischen Qualifikation und Mannschafts-Finale hatte Simone Biles durchblicken lassen, dass ihr der Druck auf und die Erwartungshaltung an sie zu viel sind. «Ich fühle mich wahrhaftig, als hätte ich zur Zeit die Last der Welt auf meinen Schultern», schrieb sie unter anderem auf Instagram. In der Pflicht sehen viele nun auch das Internationale Olympische Komitee (IOC). Dieses wies noch einmal darauf hin, dass es während Olympischer Spiele und der Paralympics die «Mentally Fit Helpline» gebe, die Teilnehmer vertraulich und rund um die Uhr in Anspruch nehmen können.

Von Martin Kloth, Thomas Bremser und Wolfgang Müller, dpa