Es war wie ein Déjà-vu: Drei Monate nach der internationalen Premiere stand Deutschlands Frauen-Riege auch bei den Olympischen Spielen in Tokio im Blickpunkt der Turn-Welt.
Der Grund war augenfällig: Elisabeth Seitz, Sarah Voss, Kim Bui und Pauline Schäfer präsentierten sich unter den 98 Starterinnen der Qualifikation als einzige in Ganzkörperanzügen statt in den üblichen knappen, badeanzug-ähnlichen Outfits. Damit hat das Quartett auch weltweit eine Debatte angestoßen darüber, wie Sportlerinnen Blicken begegnen und sich damit wohler fühlen können.
«Wollen uns toll fühlen»
Erstmals waren die deutschen Turnerinnen bei den Europameisterschaften Ende April in Basel mit den sogenannten Unitards aufgetreten. «Wir wollen uns toll fühlen, wir wollen allen zeigen, dass wir toll aussehen», sagte die 21-jährige Kölnerin Voss in Tokio. Allgemein wird die Vorreiterrolle als Revolution im Frauen-Turnen und Zeichen gegen die Sexualisierung der Sportart gewertet. So weit aber wollen die deutsche Rekordmeisterin Seitz und ihre Kolleginnen nicht gehen. «Es geht darum, sich wohl zu fühlen. Wir wollen zeigen, dass jede Frau, jeder selbst entscheiden soll, was er anzieht», sagte die 27 Jahre alte Stuttgarterin.
«Deutschlands Turnerinnen haben sich gegen die Sexualisierung des Sports ausgesprochen, indem sie bei den Olympischen Spielen in Tokio Einteiler trugen statt der traditionellen Bikini-Trikots», schrieb die bekannte US-Zeitschrift «People». Anerkennung gab es via Twitter auch von der deutschen Sportler-Vereinigung «Athleten Deutschland»: «Wir sind stolz auf die deutschen Turnerinnen und den @dtb_online, die in #Tokio2020 mit ihren #Unitards ein starkes Zeichen gegen Sexismus setzen!» Athletinnen und Athleten müssten selbst wählen können, was sie tragen, solange es ihnen keinen Vorteil verschaffe.
Zuspruch von Biles
Auch US-Superstar Simone Biles findet diese Einstellung richtig. «Ich stehe zu ihrer Entscheidung, alles zu tragen, was ihnen gefällt und worin sie sich wohlfühlen», sagte die 24-Jährige, wenngleich die viermalige Olympiasiegerin darauf verzichten wird, im Wettkampf einen Anzug zu tragen, der die Beine bis zu Knöcheln bedeckt. Es sei jeder selbst überlassen, ob sie den langen oder den kurzen Anzug tragen wolle, sagte Biles. «Man bewegt sich sehr viel und fühlt sich nicht immer 100 Prozent wohl», erläuterte Voss.
Bei Andreas Toba, dem EM-Zweiten am Reck, kommt der Vorstoß der deutschen Turnerinnen gut an. «Ich finde, dass sie eine Message vermitteln, die den Sport einfach attraktiver macht. Zum Schluss geht es darum, dass wir turnen und uns wohl dabei fühlen», sagte der Hannoveraner. Wenn diese Botschaft dabei helfe, dass Frauen sich beim Turnen wohlfühlten und nicht beklemmt turnen müssten, finde er das richtig. «Ich unterstütze das voll und ganz», betonte er.
Ob nach dem EM-Debüt im April und der Olympia-Premiere nun auch ein Trend aus den Unitards wird, ist ungewiss. Aus der Zentrale des führenden US-Trikotherstellers GK Elite hieß es, es gebe nur wenige Anfragen nach Anzügen, wie sie aus der Rhythmischen Sportgymnastik bekannt sind. Nachfrage gebe es insbesondere aus Ländern, wo aus kulturellen und religiösen Gründen Zurückhaltung gefordert sei, sagte Verkaufschef Matt Gowan der Nachrichtenagentur AP.
«Erstmal den Anstoß gegeben»
Einen Grund dafür, dass in Tokio nicht mehr Turnerinnen mit den eleganten langen Anzügen an die Geräte getreten sind, vermutet Elisabeth Seitz in einem Zeitproblem. Die Reaktionen auf den Auftritt in Basel seien überwiegend positiv gewesen, sagte sie. «Aber nach den Europameisterschaften war die Zeit zu kurz für andere, einen langen Anzug zu entwerfen», meinte die Olympia-Vierte von 2016 am Stufenbarren. Sarah Voss hat Hoffnung, dass sich ihnen über kurz oder lang mehr Turnerinnen anschließen werden. «Wir haben erstmal den Anstoß gegeben. Wir freuen uns, wenn andere die Innovation aufgreifen und wir einen Trend gesetzt haben», sagte sie.
Offen ist, ob Elisabeth Seitz und Kim Bui am Donnerstag im Mehrkampf-Finale ebenfalls in Ganzkörperanzügen antreten oder auf das übliche Outfit zurückgreifen. «Es ist eine Entscheidung von Tag zu Tag. Es kommt darauf an, wie wir uns fühlen und was wir wollen. Wir entscheiden am Wettkampftag, was wir anziehen», sagte Seitz.
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