27. November 2024

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Para-Sprinterin Bensusan: «Bin der Depression davongelaufen»

Seit einem Unfall an einer Hürde 2009 hat Sprinterin Irmgard Bensusan ein gelähmtes Bein. Drei Jahre lang leidet sie eigenen Worten zufolge an Depressionen. Heute ist sie eine der besten Para-Sprinterinnen der Welt und bei den Paralympics in Tokio Gold-Favoritin.

Es überraschte sie, dass alle überrascht waren: Im vergangenen Herbst informierte Irmgard Bensusan ihre Familie darüber, dass sie drei Jahre an Depressionen litt. Nun ging sie an die Öffentlichkeit.

Und wurde in beiden Fällen durch die Reaktionen überrascht. «Ich dachte, dass es doch alle gewusst haben mussten», sagte die Sprinterin der Deutschen Presse-Agentur und führte aus: «Meine Familie hat mitbekommen, durch welche schweren Zeiten ich gegangen bin. Und ich habe in jedem Interview erzählt, in welchem Loch ich nach meinem Unfall war. Aber im Endeffekt hat niemand gewusst, dass ich an Depressionen litt.»

«Den Depressionen davongelaufen»

Dass sie es geschafft hat, die Krankheit zu überwinden, liegt ihrer Ansicht nach vor allem an der Unterstützung der Familie. Und an der Liebe zum Laufen. «Man kann quasi sagen, dass ich den Depressionen davongelaufen bin», sagt die dreimalige Para-Weltmeisterin.

Begonnen hat alles im Jahr 2009. Bensusan, damals 18, ist ein großes Sprint-Talent. Südafrikanische Jugend-Meisterin. Bei nationalen Meisterschaften bleibt sie an einer Hürde hängen. «Ich habe mein Bein angeschaut und konnte nur noch schreien.» Sechs Monate lang hofft sie, wieder normal laufen zu können. Bis ein Arzt die Hoffnung zerstört. Sie hat einen Nervenschaden am rechten Unterschenkel, er bleibt teilweise gelähmt. «Ich habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen, wollte mit niemandem reden», erzählt sie. Als sie am nächsten Morgen aufschließt, hat ihre Mutter einen Termin beim Psychologen gemacht. Der überweist sie zum Psychiater.

Essstörungen und «ein Schwarzes, tiefes Loch»

Sie bekommt Medikamente, doch mental lässt sie sich auf die Therapie nur widerwillig ein. Dabei sagt sie selber rückblickend: «Ich habe mich selbst gehasst. Es gab Tage, an denen ich nicht aufstehen wollte. Es gab auch mal zwei Wochen, in denen ich mit niemandem geredet habe. Und ich hatte Essstörungen. Es war ein schwarzes, tiefes Loch.» Aber zumindest nicht dauerhaft. «Es kam und es ging», sagt die 30-Jährige: «Aber es war immer da.»

Über die Therapie spricht sie mit ihrer Mutter nie. «Und sie hat das akzeptiert, weil sie weiß, dass ich die meisten Dinge mit mir selbst ausmache», sagt sie. Entsprechend war sogar die Mutter von der Nachricht im vergangenen Herbst etwas überrascht. Dennoch war sie «immer mein Licht und der Arm zum Anlehnen», sagt Bensusan.

Als das schwarze Loch nach zwei Jahren immer noch da ist, ist ihr klar: Sie muss wieder laufen. «Ich habe mich gefragt, was mich glücklich macht», sagt sie: «Und das war das Laufen. Also musste ich wieder anfangen. Egal, wie langsam ich bin oder ob ich Letzte werde.» Sie läuft wieder, beendet die Therapie. Ende 2012 reist sie mit ihrer Mutter, zwei Brüdern und der Schwester in zehn Tagen 8000 Kilometer durch Afrika. «Auf dieser Reise habe ich mich selbst wiedergefunden», sagt sie: «Da habe ich mich zum ersten Mal wieder glücklich gefühlt.»

In Leverkusen neu durchgestartet

Laufen soll wieder ein großer Teil ihres Lebens werden. Doch sie wird nicht für den Para-Sport klassifiziert. Ihre aus Hannover stammende Mutter vermittelt sie nach Leverkusen. Sie zieht dorthin und startet durch. Bei den Paralympics 2016 in Rio holt sie dreimal Silber, bei ihren beiden Starts in Tokio in wenigen Wochen gilt sie als Favoritin.

«Von dem Moment an, als ich meine Behinderung akzeptiert habe, hatte ich auch die Krankheit im Griff», sagt Bensusan. Letztlich hat sie sich quasi selbst geholfen. «Dennoch war die Behandlung wichtig, weil ich dort vieles gelernt habe. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Und ohne meine Mutter wäre ich niemals hingegangen.»

Seit acht Jahren ist die Krankheit nicht zurückgekommen. Und Bensusan glaubt, «dass mir das auch nicht passieren wird». Nach einer Quarantäne wegen eines Corona-positiven Teamkollegen im Herbst habe sie «drei Tage lang nur geweint. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören». Die Depressionen kamen aber nicht zurück. «Weil sich meine Einstellung zum Leben geändert hat», glaubt sie: «Weil ich meinen Weg gefunden habe. Ich habe nur ein Leben, das lebe ich, so wie ich es will.»

Schlüsselerlebnis in Südafrika

Das Schlüssel-Erlebnis, über ihre Krankheit zu sprechen, hat sie im Herbst 2020 in Südafrika. Als sie eine Person aus dem engen Umfeld trifft und ihre eigenen Symptome wiedererkennt, spricht sie Klartext. «Ich habe gesagt: Ich weiß, was du gerade durchmachst», sagt sie: «Ich habe das alles auch durchgemacht. Du musst dir helfen lassen.» Die Person tut es und ist Bensusan heute sehr dankbar.

Deshalb glaubt sie, dass ihre Geschichte vielleicht auch anderen helfen kann. «Niemand darf sich schämen für diese Krankheit», sagt sie: «Und niemand darf zu stolz sein, sich helfen zu lassen.» Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, lobt ihren Schritt an die Öffentlichkeit. «Ich habe sie immer als ausgesprochen starke Persönlichkeit kennengelernt», sagt er: «Ihr Schritt ist ein weiterer Beweis für die Stärke. Wir haben in der Gesellschaft noch viel Nachholbedarf im Umgang mit Depressionen. Deshalb werde ich ihr gratulieren.»

Sie selbst ist heute «sehr glücklich. Ich liebe mein Leben. Ich stehe jeden Tag auf und freue mich.» Im Team ist sie sehr beliebt, ihre Kollegen rufen sie «Tante Irmie». Sie nennt sich «ein tollpatschiges Mädchen, das über eine Hürde fiel und zur Para-Athletin wurde». Ihr gelähmtes Bein taufte sie liebevoll «Schluffi».

Geblieben ist ihr nur eine Zwangsstörung. «Wenn ich besonders unter Stress stehe, muss ich alles zählen», sagt sie: «Wenn ich in einen Raum komme, zähle ich Sachen. Beim Laufen zähle ich Schritte. Ich dachte immer, dass ich das tue, weil ich die Zahlen liebe. Heute weiß ich, dass es eine Kompensation ist. Aber damit», so Bensusan, «kann ich sehr gut leben».

Von Holger Schmidt, dpa