Es ist nicht lange her, da wurden Gareth Southgate und Englands Fußballer von den eigenen Fans verspottet. Die Three Lions traten im Oktober 2017 zu einem WM-Qualifikationsspiel gegen Slowenien an, ein netter Abend in Wembley und ein lockerer Sieg, das dachten zumindest einige.
Doch die Engländer lieferten eine derart ernüchternde Vorstellung ab, dass die eigenen Fans buhten und irgendwann anfingen, Papierflieger aufs Spielfeld zu werfen. Die Geste war unmissverständlich: Was ihr da abliefert, kann man sich nicht anschauen! Am Ende gewann England zwar mit 1:0. Doch der Frust über das Nationalteam blieb groß.
Southgate lässt England träumen
Fast vier Jahre hat Southgate benötigt, um das oft komplizierte Verhältnis zwischen Fans und Nationalmannschaft komplett zu drehen. Vor dem Halbfinale am Mittwoch (21.00 Uhr) gegen Dänemark wurde sein Team bei dieser Europameisterschaft nicht einmal mit Papierfliegern beworfen. Es gab schon Buhrufe, ja, einen biederen Auftritt wie beim 0:0 in der Vorrunde gegen den alten Rivalen Schottland können die kritischen Anhänger dann doch nicht einfach so hinnehmen. Aber andere Bilder überwiegen: Etwa die ausgelassene Party im Wembley-Stadion nach dem historischen Sieg im Achtelfinale gegen Deutschland. England feiert wieder und England träumt. Vor allem dank Southgate.
«Unsere Nation der Helden», titelte die «Daily Mail» am Montag zu Fotos von den Nationalspielern Raheem Sterling und Harry Kane sowie Helfern der Gesundheitsbehörde NHS, die von der Queen für ihren Einsatz während der Corona-Krise geehrt wurden. Dabei wurde Southgate selbst zu EM-Beginn noch kritisch beäugt, weil sein Team trotz zahlreicher Offensivstars nicht durch die Vorrunde wirbelte, sondern trockenen Ergebnisfußball ablieferte. Jetzt stehen die Engländer vor dem ersten Einzug ins Finale eines großen Turniers seit 1966. «Den Menschen so viel Freude zu geben, ihnen Hoffnung zu geben, das gehört zu den Privilegien unseres Jobs», sagte Southgate.
Es ist ein typischer Southgate-Satz. Dem ehemaligen Verteidiger ist es gelungen, eine gespaltene Nation hinter ihrer wichtigsten Mannschaft zu vereinen. «Dank Southgate ist England wieder in Mode», schrieb die Tageszeitung «The Times» am Montag. Während noch zu Beginn des Turniers manche Medien spotteten, dass Southgate aufgrund seiner Eloquenz vielleicht eher für den diplomatischen Dienst als für den Job als Nationalcoach geeignet wäre, geht sein Plan auf. Er hat aus den Three Lions eine perfekt geölte Turniermaschine geformt. Die Titel-Krönung am 11. Juli vor rund 60.000 Fans in Wembley wäre für ihn auch eine Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit.
Erinnerung an 1996 schmerzt
Vor 25 Jahren erlebte der damals 25-Jährige seinen bittersten Moment als Spieler. Im Halbfinale der EM im eigenen Land versagten ihm ebenfalls in Wembley vor 75.862 Zuschauern in einem Fußball-Krimi die Nerven. Im Elfmeterschießen gegen Deutschland verschoss Southgate als einziger Spieler, Andreas Möller beförderte die DFB-Auswahl schließlich ins Finale und beendete damit den Traum einer ganzen Nation. Wegen Southgate. «Das wird mir immer wehtun», sagte Southgate erst vor einer Woche. Dabei hat er die meisten seiner Landsleute mit dem ersten Sieg gegen Deutschland im K.o.-Spiel eines großen Turniers längst erlöst.
«Gareth, du musst dich bei uns nicht für die EM 1996 entschuldigen. Lass los. Wir sind so stolz auf dich», schrieb Englands Stürmer-Legende Alan Shearer in einer Kolumne für das Sportportal «The Athletic». Southgate freute sich über die emotionalen Worte seines ehemaligen Teamkollegen. Doch es reicht ihm nicht. Er will jetzt mehr. «Wir geben uns nicht damit zufrieden, dass wir im Halbfinale sind», sagte er. Das Endspiel am 11. Juli ist sein Ziel, seine Mannschaft soll bei dieser EM Geschichte schreiben. Southgate will den Titel mit aller Macht. Und er will, dass die eigenen Fans seine Mannschaft nie wieder mit Papierfliegern bewerfen.
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