Von Selbstzweifeln und Verunsicherung ist bei Joachim Löw vor der hitzigen Kraftprobe mit Portugals EM-Champions um Torminator Cristiano Ronaldo nichts zu spüren.
Der Bundestrainer weiß aber ganz genau, dass insbesondere sein offensiver Lieferdienst im zweiten Gruppenspiel am Samstag (18.00 Uhr/ARD und Magenta TV) in der Münchner Arena nicht wieder ausfallen darf wie beim 0:1-Fehlstart gegen Weltmeister Frankreich. Denn sonst droht Deutschland gleich das nächste Turnierdesaster – und Löw ein DFB-Abschied ohne Applaus.
Gnabry zurück
Entsprechend energisch schwor Löw seine 24 verfügbaren EM-Spieler um den nach einer kurzen Trainings-Auszeit zurückgekehrten Angreifer Serge Gnabry am Tag vor dem Spiel bei der abschließenden Einheit noch im Basiscamp in Herzogenaurach ein. Mehrere Minuten dauerte Löws Ansprache auf dem Rasen. Schon zuvor hatte der 61-Jährige am Rande des Platzes die weitere Marschroute ausgegeben: «Wir haben alles noch in der eigenen Hand. Aber wir müssen uns steigern!»
Bei den letzten Worten ballte Löw mehrmals die Faust. Volle Power ist gefordert. Bei «30 Grad», die Löw als Wettermann für Samstagabend vorhersagte, kündigt sich auch ein körperlicher Abnützungskampf an.
Portugal hat halt Ronaldo
Anders als beim Titelgewinn 2016 in Frankreich haben die Portugiesen gleich im ersten Turnierspiel mit dem 3:0 in Budapest gegen Ungarn in die Spur gefunden und die Weichen Richtung Achtelfinale gestellt. Und Portugal hat halt Cristiano Ronaldo, den ewigen Nationalhelden, der nach den Toren Nummer zehn und elf gegen Ungarn EM-Rekordschütze ist.
Bei Deutschland wird dagegen ein verlässlicher Goalgetter und Spielentscheider seit Jahren vermisst. Aber vorne darf die Null nicht nochmal stehen. «Wir brauchen auf jeden Fall das eine oder andere Tor», sagte auch Löw fast flehend. Nur Wille, Herz und Leidenschaft reichen nicht, um mit den Besten Europas mithalten zu können.
Mehr Mut, mehr Risiko, mehr Entschlossenheit mahnte Joshua Kimmich an: «Wir müssen noch zielstrebiger nach vorne spielen.» Eine gute Chance von Gnabry in 90 Minuten gegen Frankreich war viel zu wenig. Aber wer taugt zum Matchwinner? Gnabry, Thomas Müller und Kai Havertz bildeten ein recht stumpfes Offensiv-Trio in Spiel eins.
Löw-Lösung Sané?
Heißt Löws Lösung Leroy Sané? «Wir wissen, wie gut er ist, wie gut er uns tun kann», warb Ilkay Gündogan für den mit Talent gesegneten Angreifer. Auch Timo Werner wartet auf sein «Go» von Anfang an. Oder könnte der unbekümmerte Bayern-Youngster Jamal Musiala ein Tor-Joker sein? «Wir haben im Offensivbereich ein brutales Überangebot an Spielern», sagte Champions-League-Sieger Werner. Quantität ist tatsächlich vorhanden – europameisterliche Qualität auch?
Deutschland war über Jahrzehnte das Land der Mittelstürmer: Uwe Seeler, Gerd Müller, Horst Hrubesch, Karl-Heinz Rummenigge, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann, Oliver Bierhoff und und und. Die Liste reicht bis zu Miroslav Klose, dem DFB-Rekordtorschützen mit 71 Treffern, für den Löw seit dem WM-Triumph 2014 nach einem Nachfolger sucht. Die beste Torquote der jüngeren Vergangenheit verzeichnet noch Gnabry, der aber keine klassische Spitze ist, sondern beim FC Bayern auf dem Flügel spielt. Der 25-Jährige meldete sich zum Glück fit: Mit einem blauen Tape am linken Knie trainierte er wieder.
Was verändert Löw?
Was verändert Löw? Womöglich nichts – oder nur wenig. Es gab in der kurzen Zeitspanne zwischen Frankreich und Portugal keine Hinweise auf einen Systemwechsel. Löw könnte sogar derselben Startelf vertrauen, zumal er Leon Goretzka nach sechs Wochen Wettkampfpause eher als wertvollen Helfer während des Spiels einstuft. Für Löw geht es allenfalls «um Nuancen», die angepasst werden müssen. «Portugal spielt etwas anders als Frankreich», bemerkte der 61-Jährige.
«Wir spielen voll auf Sieg», versprach derweil forsch Abwehrspieler Matthias Ginter: «Wir können alles noch geradebiegen.» Auch als Dritter ist ein Weiterkommen in der Hammergruppe F möglich. «All in» gehen muss Löw deswegen in Spiel Nummer zwei noch nicht zwingend.
In gestenreichen Zwiegesprächen bereitete er Ginter und Antonio Rüdiger auf dem Trainingsplatz auf ihre große Defensivaufgabe gegen Ronaldo vor. Zusammen mit dem wieder zentral verteidigenden Mats Hummels soll das Duo die Fußball-Diva ausbremsen. «Cristiano Ronaldo zählt immer noch zu den besten Stürmern der Welt», sagte Ginter über den inzwischen 36-Jährigen: «Da gilt es, höllisch aufzupassen!»
Ronaldo (noch) kein DFB-Schreck
Zum Schreckgespenst des DFB-Teams und auch von Löw wurde der exzentrische Weltstar allerdings noch nie. Viermal spielte Ronaldo bei großen Turnieren gegen Deutschland. Die Bilanz: Kein Tor, kein Sieg, nur Niederlagen und jede Menge Frust.
Auch bei dieser EM fokussiert sich beim portugiesischen Team alles auf Ronaldo. Aber die Seleção ist längst mehr als ein Superstar und elf Komparsen. Sie gleicht einer Besten-Auswahl aus Englands Premier League mit Könnern wie Joao Cancelo, Ruben Dias, Bernardo Silva (alle Manchester City), dazu Bruno Fernandes (Manchester United) oder Diogo Jota vom FC Liverpool. Da ist sogar für Eintracht Frankfurts Torjäger André Silva bisweilen kein Startplatz im Angriff frei. «Portugal hat brutale Qualität, als Mannschaft und individuell», sagte Havertz, der nach einem Jahr beim FC Chelsea Portugals Engländer gut kennt.
«Aber wir müssen uns auch nicht kleinmachen», fügte Havertz hinzu. Mit der Unterstützung der Fans soll das 0:1 gegen Frankreich korrigiert werden. «Es ist noch nichts verloren. Wir haben alle Chancen, mit einem Sieg einen großen Schritt Richtung Achtelfinale zu setzen», sagte Havertz. Ronaldos Deutschland-Frust soll anhalten.
Die voraussichtlichen Aufstellungen:
Portugal: 1 Rui Patricio (Wolverhampton Wanderers/33 Jahre/94 Länderspiele) – 2 Nelson Semedo (Wolverhampton Wanderers/27/19), 3 Pepe (FC Porto/38/116), 4 Ruben Dias (Manchester City/24/29), 5 Raphael Guerreiro (Borussia Dortmund/27/47) – 13 Danilo Pereira (Paris Saint-Germain/29/48), 14 William Carvalho (Betis Sevilla/29/67) – 11 Bruno Fernandes (Manchester United/26/30) – 10 Bernardo Silva (Manchester City/26/56), 7 Cristiano Ronaldo (Juventus Turin/36/176), 21 Diogo Jota (FC Liverpool/24/15)
Deutschland: 1 Neuer (Bayern München/35/101) – 26 Ginter (Borussia Mönchengladbach/27/41), 5 Hummels (Borussia Dortmund/32/73), 2 Rüdiger (FC Chelsea/28/42) – 6 Kimmich (Bayern München/26/55), 8 Kroos (Real Madrid/31/103), 21 Gündogan (Manchester City/30/47), 20 Gosens (Atalanta Bergamo/26/8) – 7 Havertz (FC Chelsea/21/15), 10 Gnabry (Bayern München/25/23), 25 Müller (Bayern München/31/103)
Schiedsrichter: Taylor (England)
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