Ralf Rangnick ließ seinen Spielern den Vortritt. Dann nahm auch er sich Zeit für die vielen Fans. In Berlin schrieb der Coach nach dem öffentlichen Training seiner österreichischen Nationalmannschaft in Sichtweite des Olympiastadions fleißig Autogramme und posierte lächelnd für Fotos.
Sein erstes großes Turnier als Nationaltrainer, in seiner Heimat – und aus dem deutschen Nachbarland bekommt er als Trainer mehr Liebe als vielleicht je zuvor. «Ich bin auf unvergleichliche Weise angekommen, als Trainer und als Mensch», sagte der 65-Jährige, ältester Chefcoach des Turniers, der «Zeit». «An Respekt und Wertschätzung hat es bei keiner meiner Stationen gemangelt. Dass hier jetzt oft das Wort Liebe fällt, ist jedoch sicherlich kein Zufall.»
Am Montagabend (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) startet die Auswahl des Österreichischen Fußball-Bundes (ÖFB) gegen Vizeweltmeister Frankreich in das Turnier. Am 21. und 25. Juni folgen in Berlin die Gruppenspiele gegen Polen und die Niederlande.
Rangnick kennt seine Grenzen
Um sich dieser Herzensangelegenheit voll und ganz widmen zu können, hat Rangnick sogar dem FC Bayern München abgesagt. «Wir haben hier in Österreich zwei Jahre investiert, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind. Das wollte ich nicht gefährden», sagte er dem «Kicker».
Und auch nicht durch den Versuch beides zu machen, seine Gesundheit riskieren. «Ich weiß, wie es ist, wenn man über seine Kräfte geht. Das wollte ich unter keinen Umständen nochmals erleben», sagte der Trainer der «Zeit» als Verweis auf seinen Burnout, der ihn 2011 zum Abgang bei Schalke zwang. Trotzdem sei die Absage an den deutschen Rekordmeister eine seiner «schwierigsten beruflichen Entscheidungen» gewesen.
Es passt fußballerisch perfekt
Dass er in Deutschland lange kritisch beäugt wurde, habe gelegentlich schon sehr geschmerzt, räumt der Trainer ein. Als er 1998 im ZDF-«Sportstudio» in der deutschen Fußballsteinzeit Viererkette und Pressing erklärte, hatte er den Ruf als Professor weg. Seine Arbeit für die finanzstarken und deswegen umstrittenen Projekte von Dietmar Hopp in Hoffenheim und Red Bull machte ihm unter Traditionalisten keine Freunde.
Das ändert aber nichts daran, dass der 65-Jährige ein großer Modernisierer und Entwickler ist. Er prägte den Stil aller Teams im Red-Bull-Kosmos, den nun auch die Österreicher pflegen: aggressives Pressing, viel Energie, möglichst ohne Umwege in Richtung Tor. Das passt auch deswegen so gut zum ÖFB-Team, weil viele Spieler diese Ideen schon aus Salzburg und Leipzig kennen. «Man merkt einfach, dass es zwischen Mannschaft und Trainerteam perfekt passt, wie die Faust aufs Auge», sagte Bayern Münchens Mittelfeldspieler Konrad Laimer ntv.
Die Euphorie ist groß
Die Österreicher kommen mit viel Rückenwind nach Deutschland. Wie unangenehm sie als Gegner sind, zeigten sie unter anderem mit Testspiel-Siegen gegen Deutschland, Serbien und die Türkei. Die Qualifikation wurde souverän geschafft. Was das Team besonders stark macht? «Die absolute Bereitschaft, sich im Sinne der Mannschaft einzubringen und sich nicht so wichtig zu nehmen – man kann es als Familie beschreiben», sagte Rangnick.
Die Euphorie ist für österreichische Verhältnisse groß. Zum öffentlichen Training im oberösterreichischen Windischgarsten kamen zuletzt im strömenden Regen 3000 Fans. Auch wenn die Mannschaft nicht einen der Spielorte nah an der Grenze erwischte, werden viele die Reise antreten.
Schwere Gegner warten
Der Ruf als Geheimfavorit ist oft ein Omen für ein schnelles Aus, wie die ÖFB-Auswahl selbst seit 2016 weiß. Vor allem haben die Österreicher mit Frankreich, den Niederlanden und Polen die wohl schwerste Gruppe erwischt. «Wenn wir in der Gruppe weiterkommen wollen, müssen wir am absolut obersten Level performen», sagte Rangnick. «Wenn wir das aber schaffen und weiterkommen, dann kommen nicht mehr viel schwierigere Gegner.»
Doch auch das Verletzungspech ist groß. Mit Kapitän David Alaba (Real Madrid), als Unterstützer von der Bank dabei, Xaver Schlager (RB Leipzig), Frankfurt-Leihe Sasa Kalajdzic und der eigentlichen Nummer eins im Tor, Alexander Schlager, fehlt eine ganze Achse. «Die tun richtig weh, gar keine Frage. Aber wenn sonst alle gesund bleiben, sind wir in der Lage, eine richtig starke Mannschaft aufs Feld zu bringen», gibt sich der Trainer optimistisch.
Mit der Pressingmaschine kann man durchaus große Mannschaften überraschen und auch die Gruppengegner haben einige Ausfälle zu beklagen. Sollte Österreich weiterkommen, wird es spannend, wie nachhaltig der intensive Stil bei so einem Turnier funktioniert. Viele der erfolgreichen Nationen wählten zuletzt eine deutlich zurückhaltendere Herangehensweise. «Ja, es ist sehr unwahrscheinlich, dass Österreich Europameister wird. Aber völlig ausgeschlossen ist es nicht», sagte Rangnick.
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