Mit 18 Briefträger, mit 22 in der Verbandsliga, mit 29 Nationalspieler beim damaligen Weltmeister: Die Karriere von Jonathan Clauss ist eine der ungewöhnlichsten im internationalen Profi-Fußball.
Im Aufgebot von Frankreich um Superstar Kylian Mbappé ist der 31-Jährige, den Arminia Bielefeld einst aus der Vereinslosigkeit rettete, festes Kader-Mitglied. In den letzten vier Spielen stand der Elsässer dreimal in der Startelf, natürlich gehört er auch beim Spiel gegen Deutschland am Samstag (21.00 Uhr/ZDF) in Lyon zum Aufgebot. Und angeblich wirbt auch der FC Bayern München um ihn.
«Ich musste das alles erst einmal begreifen. Alles schien so weit weg, und plötzlich war ich hier», sagt Clauss, als er im März 2022 durch seine Einwechslung für Bayern-Stürmer Kingsley Coman gegen die Elfenbeinküste zum zweitältesten Debütanten der Équipe Tricolore wird. Im Magazin «Onze Mondial» erzählt er: «Als mein Name bei der ersten Nominierung im Fernsehen genannt wurde, bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Ich glaube, ich habe einen Monat gebraucht, es zu begreifen. Es fühlte sich fast übernatürlich an.»
Bielefelds Sportchef sieht besondere Fähigkeiten
Rund 1200 Kilometer entfernt in Bielefeld verfolgte Samir Arabi das Ganze mit einem Lächeln. «Wahnsinn, welche Entwicklung er genommen hat. Das ist wie ein Märchen», sagt der langjährige Sportchef von Arminia Bielefeld der Deutschen Presse-Agentur: «Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, habe ich gleich gesehen, dass er besondere Fähigkeiten hat. Es war für mich früh absehbar, dass er ein guter Erstliga-Spieler werden kann. Dass er mal Nationalspieler werden wird, war damals aber noch nicht absehbar.»
Denn bevor Arabi Clauss verpflichtet, ist dessen Karriere quasi schon vorbei. Nach der Jugend wird er bei Racing Straßburg aussortiert. «Ich habe Aushilfsjobs angenommen», erzählt er in einem Interview mit «20 minutes»: «Ich habe bei der Post gearbeitet oder Werbeprospekte verteilt. Ich habe das getan, um die Zeit bis zum Training zu überbrücken.» 2013 spielt er kurz hinter der Grenze beim südbadischen Verbandsligisten SV Linx. 2015, damals immerhin schon fast 23, geht er in die fünfte französische Liga. Weitere zwei Jahre später schafft er es in die zweite Spielklasse bei US Quevilly, steigt mit dem Team aus der Normandie aber ab und bekommt keinen neuen Vertrag.
Ein wunderbarer Anruf
In dieser Saison hat Arabi den schnellen und offensivstarken Rechtsverteidiger das erste Mal gesehen, im Februar 2018 bei einem Spiel in Nancy. «Er flog sogar vom Platz», erinnert er sich: «Aber er hat außergewöhnliche Sachen gemacht.» Als Clauss nach einer Verletzung von Arminia-Rechtsverteidiger Cedric Brunner Ende August noch auf dem Markt ist, schlägt die Arminia zu.
Ein Transfer nach Belarus war zuvor durch die Entlassung des Trainers geplatzt. Clauss überlegt, wieder Postbote zu werden. «Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, und ich habe gesagt: „Ich höre mit dem Fußball auf“», erzählt er: «Ich war kurz davor, wirklich aufzuhören. Wenn ich nicht zehn Minuten später einen wunderbaren Anruf erhalten hätte.» Den von Samir Arabi.
Beim Aufstieg 2020 sticht Clauss laut seines Sportchefs «aus einer homogenen Mannschaft hervor». Er habe auch «im Rahmen unserer Möglichkeiten alles versucht, ihn zu halten». Doch Clauss hat gute Angebote und wechselt ablösefrei zu RC Lens in die erste Liga seiner Heimat. «Ich bin als Kind gekommen und werde als Mann weiterziehen», schreibt er zum Abschied in den sozialen Medien. Zwei Jahre später zieht er für 7,5 Millionen zu Olympique Marseille weiter. Da ist er schon Nationalspieler.
Bilanz einer Jojo-Karriere
Nun winkt ihm die EM-Teilnahme, nachdem er bei der WM in Katar im letzten Moment aus dem Kader gestrichen wurde. Mit Clauss auf rechts wird der frühere Bayern-Spieler Benjamin Pavard frei für seine Lieblingsposition im Zentrum. Großer Rivale ist Jules Koundé vom FC Barcelona, dem vom Fachportal «transfermarkt.de» ein Marktwert von 60 Millionen Euro zugeschrieben wird. Clauss ist dort inzwischen mit 15 Millionen notiert. Rund 50 Mal so viel wie zu Bielefelder Zeiten.
Und wäre er nicht schon 31, wären es wohl ein paar Millionen mehr. «Mein Leben vom 18. Lebensjahr bis heute ist wie ein Jojo», sagt er lachend: «Was ich seitdem erlebt habe, ist einfach nur verrückt.»
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