Als Timo Boll zum ersten Mal an einer Tischtennis-Weltmeisterschaft teilnahm, hieß der deutsche Bundeskanzler noch Helmut Kohl. 1997 in Manchester war das. Und Boll sagt in der Rückschau: «Mich hat das total fasziniert. Ich habe zum ersten Mal die chinesischen Spieler gesehen, die ich vorher nur aus dem Fernsehen kannte.»
Seitdem hat die Menschheit das Smartphone, die Dating-Portale oder einen neuen Mars-Roboter erfunden. Was aber immer noch kaum jemand kennt, ist ein Weg, die Übermacht China bei einem großen Tischtennis-Turnier zu besiegen. Allein die deutsche Mannschaft verlor seit Bolls Karrierebeginn sechs WM- und zwei Olympia-Finals gegen diesen Gegner. Es beim möglicherweise neunten Versuch endlich einmal zu schaffen, ist ein starker Antrieb für Boll, bei der Team-WM vom 16. bis 25. Februar in Südkorea noch einmal anzutreten. Es ist im Alter von 42 Jahren und elf Monaten bereits sein 21. WM-Turnier.
Glaubt er wirklich noch einmal an diesen einen großen Tag? «Das ist doch eine Selbstverständlichkeit», sagt Boll der Deutschen Presse-Agentur. «Auch im Einzel habe ich gegen den Weltmeister Fan Zhendong neunmal in Folge verloren. Und trotzdem gehst du jedes Mal wieder in das Spiel und versuchst, einen Weg oder eine Lösung zu finden.»
Bemerkenswertes Comeback
Ein wenig Hoffnung macht den deutschen Spielern, dass die Chinesen von den vielen Turnieren und verschiedenen Wettbewerben im Tischtennis genauso genervt und gestresst sind wie sie selbst. Und dass der Rekord-Europameister Boll mit fast 43 nochmal ein bemerkenswertes Comeback hingelegt hat.
2023 fiel er mehrere Monate wegen einer komplizierten Schulterblessur aus. Boll war in seiner Karriere zwar schon häufiger verletzt. Aber nichts warf ihn bislang so weit zurück wie diese Auszeit. «Das war ein sehr steiniger Prozess, zu spüren: Ich habe meinen Instinkt verloren, ich arbeite nur noch Tischtennis, weil jeder Schlag und jede Technik nicht mehr sitzen», sagt er. «Aber als Leistungssportler wird man über all die Jahre zu dieser Arbeitsmaschine. Ich hatte einen guten Kopf, um beharrlich zu bleiben und da durchzugehen.»
In diesem Januar «platzte dann der Knoten», wie er selbst es nennt. Boll gewann den deutschen Pokal mit seinem Verein Borussia Düsseldorf und das internationale Turnier in Doha. Und vor allem: Der viermalige Weltranglisten-Erste schlug dabei reihenweise Top-15-Spieler wie Lin Yun-Ju (Taiwan), Tomokazu Harimoto (Japan) und Darko Jorgic (Slowenien), die teilweise mehr als 20 Jahre jünger sind als er. «Auch diese Spieler haben im Kopf: Da steht immer noch Timo Boll», sagt sein Teamkollege Dimitrij Ovtcharov. «Diese Präsenz macht sehr viel aus.»
Boll selbst beschreibt seinen Antrieb so: «Ich wollte es mir selbst noch einmal beweisen.» Und er fügt ganz offen hinzu: «Ich hatte auch Angst davor, aufhören zu müssen. Mit 42 Jahren wäre mir sicherlich niemand böse gewesen. Ich hätte mich vor niemandem rechtfertigen müssen. Aber es war für mich noch nicht der richtige Moment. Den wollte ich gern noch einmal hinauszögern.»
Ziel: Olympia in Paris
Läuft alles so, wie Boll sich das wünscht, dann wird er im Februar in Busan zum ersten Mal Weltmeister und im Juli zum siebten Mal in seiner Karriere zu Olympischen Spielen fahren. In Paris dabei zu sein, ist für ihn allerdings die nächste große Herausforderung nach der Rückkehr in die Weltspitze. Denn von den fünf deutschen WM-Spielern – Boll, Ovtcharov, Einzel-Europameister Dang Qiu sowie die ehemaligen Team-Europameister Patrick Franziska und Benedikt Duda – können nur drei auch zum Olympia-Team gehören.
Konkret bedeutet dies, dass fünf langjährige Trainingspartner und teils enge Freunde bei der Weltmeisterschaft nicht nur Teamkollegen, sondern auch Konkurrenten sein werden. Denn jeder von ihnen will auch zu Olympia. «Auf jedem lastet ein gewisser Druck. Man kann sich kaum Ausrutscher erlauben. Aber das muss ja nicht schlecht sein», sagt Boll. «Mit Blick auf Olympia hilft uns diese Konkurrenz, uns zu pushen und weiter Gas zu geben.»
So gern der deutsche Fahnenträger von 2016 noch einmal bei Olympischen Spielen antreten würde und so sehr ihn dieses Ziel in den vergangenen Monaten auch angespornt hat: Boll hat bereits vor der WM angekündigt, nicht als Ersatzspieler nach Paris zu fahren. «Ich will nur spielen, wenn ich das Gefühl habe, etwas erreichen zu können. Nur dabei zu sein, dafür möchte ich keinem dem Platz wegnehmen», sagt er. «Dann soll lieber ein jüngerer Spieler die Erfahrung machen, der Olympia noch nicht erlebt hat.»
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