24. November 2024

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2148 Tage zwischen Gold und Glück: Wellingers Leidensweg

Mit seinem emotionalen Sieg in Oberstdorf weckt Skispringer Wellinger Hoffnungen auf einen Tournee-Gesamterfolg. Dabei hat er seit Olympia-Gold in Südkorea sportlich viel durchgemacht.

Mit seinem umjubelten Skisprung-Erfolg vom Schattenberg weckte Andreas Wellinger Erinnerungen an fast vergessene Zeiten – und an die damaligen Teenie-Idole Sven Hannawald und Martin Schmitt.

Begleitet von kreischenden Fans bahnte sich der überwältigte Olympiasieger seinen Weg durch das komplett volle Zentrum von Oberstdorf, das zu einer großen Partymeile wurde. Es waren Szenen wie zur Jahrtausendwende, als in Deutschland ein riesiger Skisprung-Hype herrschte.

Am frühen Morgen danach waren die tausenden Zuschauer nach einer langen Nacht zwar verschwunden. Der Vorplatz des Oberstdorf-Hauses glich aber mit viel Müll und reichlich leeren Bierflaschen noch dem schwer gezeichneten Gelände eines Musik-Festivals. Gefeierter Star war Wellinger nach dem emotionalen und erfolgreichen Auftakt vor 25 500 Zuschauern im Allgäu. Er muss nach seinem Sieg vor Ryoyu Kobayashi (Japan) und Stefan Kraft (Österreich) mit einer neuen Rolle als Gejagter klarkommen.

«Ich würde sagen, das ist mal eine schöne Ausgangsposition. Für mich ist die Challenge, dass ich so weiter skispringe. Wenn ich das mache, kann ich in der Rolle als Gejagter bleiben», sagte der 28-Jährige, der erster deutscher Tournee-Gesamtsieger seit Hannawald 2002 werden könnte. Dabei hat Wellinger einen langen und von Rückschlägen gepflasterten Leidensweg hinter sich. Ein Zeitstrahl mit Olympia-Gold in Südkorea als Startpunkt.

Tag 1

Mit 22 Jahren krönt Wellinger frühzeitig seine Laufbahn. Der Bayer wird in einer eisigen Skisprung-Nacht von Pyeongchang Olympiasieger im Einzel von der Normalschanze. Es folgen zwei Silbermedaillen im Team sowie im Großschanzeneinzel. Schon vier Jahre zuvor war Wellinger mit 18 Jahren Teil des olympischen Gold-Quartetts von Sotschi.

Tag 379

Nur ein Jahr nach Olympia spielt Wellinger bei der Nordischen Ski-WM in Seefeld keine Rolle. Auf der Großschanze in Innsbruck werden seine Teamkollegen Karl Geiger, Stephan Leyhe, Markus Eisenbichler und Richard Freitag souverän Weltmeister. Wellinger ist am Bergisel Ersatzmann und Zuschauer.

Tag 482

Der Skispringer zieht sich beim Training in Hinzenbach einen Kreuzbandriss zu. Damit ist klar: Er wird für den nächsten Winter ausfallen. Doch die Botschaft ist viel schlimmer als der Ausfall für eine einzelne Saison. Denn in der sensiblen Sportart stellt eine so schwere Knieverletzung in den allermeisten Fällen eine massive und nachhaltige Karrierebremse dar.

Tag 1441

Knapp vier Jahre nach dem Olympiasieg von Pyeongchang wird Wellinger kurz vor den Winterspielen in Peking positiv auf Corona getestet. Er reist nicht mit nach China. Mit der Weltspitze hatte er in jenem Winter aber auch vor seinem positiven Test nichts zu tun.

Tag 1827

Wellinger meldet sich mit einem Weltcup-Sieg in Lake Placid eindrucksvoll in der Weltspitze zurück. Der Erfolg kommt ziemlich aus dem Nichts, schließlich hatte der Olympiasieger zuvor seit Dezember 2017 nicht mehr ganz oben auf einem Podest im Weltcup-Einzel gestanden. Eine Woche später gewinnt er im rumänischen Rasnov auch die WM-Generalprobe, auf die viele Topathleten aus Belastungsgründen aber verzichtet hatten.

Tag 2148

Mit dem Auftaktsieg bei der Vierschanzentournee in Oberstdorf feiert Wellinger einen der größten Erfolge in seiner sportlichen Laufbahn. «Der steht ganz, ganz weit oben. Es ist schwer zu vergleichen mit einem Olympiasieg, aber es wird in einer ähnlichen Kategorie sein», sagte der Ruhpoldinger.

«Noch nie» habe er eine solche Stimmung wie bei der deutschen Hymne am Schattenberg erlebt. Doch besonders viel Zeit zur Verarbeitung hat Wellinger nicht. Mit den Springen am 1. Januar in Garmisch-Partenkirchen, am 3. Januar in Innsbruck und am 6. Januar in Bischofshofen hat Wellinger die Chance, seine Laufbahn endgültig zu krönen.

Patrick Reichardt und Thomas Eßer, dpa