Im kalten November-Nieselregen auf dem Maifeld neben dem Olympiastadion machte Thomas Müller vor ein paar Hundert Fans den Gute-Laune-Einpeitscher. Mit Kumpel Mats Hummels legte er sich bei einer Bolzplatz-Challenge dann richtig ins Zeug – und gewann gegen die Bayern-Kollegen Leon Goretzka und Serge Gnabry.
Das Sieger-Gefühl wäre den Routiniers am Vorabend lieber gewesen. Doch von der Ersatzbank hatten beide beim 2:3 gegen die Türkei leidvoll mit ansehen müssen, dass auf dem Weg zur Heim-EM noch einiges im Argen liegt bei der Fußball-Nationalmannschaft.
Julian Nagelsmann war bei dem Fan-Event gleich neben dem EM-Final-Stadion nicht dabei. Der Bundestrainer hatte im Teamhotel am Potsdamer Platz vor der Reise nach Wien genug zu mit seiner Spielanalyse zu tun. Rudis Völlers legendäre Tiefpunkt-Tirade kopierte Nagelsmann zwar nicht. Doch schon der erste kleine Vergleich mit den großen Problemen der Glücklos-Ära von Hansi Flick hatte den Bundestrainer kurz nach dem Rückschlag auf die Palme gebracht.
«Wir können jetzt wieder anfangen, alles schwarzzumalen und alles schlecht zu sehen. Das können wir machen, da werden wir aber nicht weiterkommen als Fußball-Nation», wetterte Nagelsmann nach seiner ersten Niederlage im höchsten Traineramt.
Schnelle Selbstzweifel gehören nicht zum Repertoire des 36-Jährigen. Auch am Dienstag (20.45 Uhr/ZDF) gegen Österreich will er seinen mutigen und unkonventionellen Kurs im finalen EM-Test vor der Gruppenauslosung durchziehen. «Ich bin weit davon weg, alles negativ zu sehen», sagte Nagelsmann. Wie gering der Kredit für die Nationalmannschaft nach drei Turnier-Pleiten sieben Monate vor der Heim-EM ist, bekam er nach seinem erstaunlichen Taktik-Move mit Kai Havertz als linken Außenverteidiger aber mit voller Wucht zu spüren.
DFB-Chef: EM-Finale als Ziel
Früh am Sonntagmorgen sah DFB-Chef Bernd Neuendorf im TV-Studio der «Bild» offenbar die Notwendigkeit, dem Chefcoach gleich nach dem ersten Rückschlag zur Seite zu springen. «Wir gefallen uns oft darin, in eine toxische Situation zu kommen, alles schlechtzureden, und das war es nicht», verteidigte der Top-Funktionär den Nagelsmann-Kurs.
Sportliche Bewertungen vermied der DFB-Boss. Dafür überraschte er mit einer klaren Final-Ansage als EM-Zielsetzung – ein Ablenkungsmanöver als Flucht nach vorn? Volles Vertrauen habe er in den Bundestrainer, machte Neuendorf klar. Diese Wortwahl war bis zu den letzten Flick-Spielen identisch.
Natürlich steht Nagelsmann nach nur einem verpatzten Test nicht zur Debatte. So absurd kann die Fußball-Stimmung im Land gar nicht sein. Aber kritische Fragen mussten erlaubt sein. Die Fans vor dem TV und in der Stadionkurve wie auch die höchsten DFB-Kreise wissen, dass die DFB-Elf vor allem eines braucht: Ein klares Konzept, keine Experimente und Volten. Gerade damit hatte Nagelsmann bei seiner Debüt-Reise nach Amerika gepunktet.
Daher rührte nun die allgemeine Verwunderung über die neue taktische Verkomplizierung. Diese wurde auch vom nationalen Fußball-Chefkritiker Lothar Matthäus als RTL-Experte angeprangert. «Ich habe gedacht, die Ausprobiererei ist vorbei, nachdem Hansi Flick beurlaubt worden ist», sagte der Rekordnationalspieler.
Auf der Suche nach den EM-Emotionen
Warum also die Verwirr-Aktion mit Havertz? Nagelsmanns Antwort: Aus Überzeugung. Nicht die Taktik, also die eigene, sei die Ursache für den missglückten Türkei-Test. Die Emotionen fehlten seinen Spielern, lautete die Diagnose. Die Antwort für den Grund der Blutleer-Mentalität, die chronische Züge hat, blieb aber auch Nagelsmann schuldig.
«Die Taktik ist zweitrangig, es ist immer erst die Emotion. Wenn du da auf 100 Prozent bist, kannst du taktisch auch deutlich schlechter sein. Wenn die Emotionen nicht so sind, musst du taktisch brillant sein, um das Spiel trotzdem positiv zu gestalten», sagte Nagelsmann.
Der Lerneffekt des Türkei-Spiels war eindeutig wie ernüchternd. Allein durch den Trainerwechsel von Flick zu Nagelsmann sind die Grundprobleme nicht verschwunden. Defensive Stabilität hatte Nagelsmann als Wochenaufgabe verordnet. Eine Trainingswoche war dafür offensichtlich zu kurz. 20 Gegentore in zehn Spielen ist die Jahresbilanz. Sechs Gegentore in drei Spielen, lautet die für Nagelsmann.
Eigene Tor-Chancen gab es zur Genüge. «Acht hundertprozentige» Möglichkeiten hatte Nagelsmann gezählt. Und doch wurde dem «Gegner wieder der Spalt gelassen», ins Spiel zurückzukommen – alle Symptome sind seit Jahren bekannt.
Was ist mit der Doppelsechs?
In der Aufregung um die Havertz-Rolle geriet eine Kern-Problematik fast ins Abseits. Nagelsmann muss sich die Frage stellen, ob Ilkay Gündogan und Joshua Kimmich als Doppelsechs die beste aller Lösungen sind. Mit Pascal Groß hatte sich Gündogan in den USA prächtig ergänzt. Und mit Kimmich? «Das sind beide Spieler vom Profil her, die nicht das klassische Spiel auf den zweiten Ball lieben», analysierte Nagelsmann richtig.
Zweite Bälle zu verlieren, kann sich aber keine Mannschaft der Welt leisten, schon gar nicht in K.-o.-Spielen bei einem Heim-Turnier. Eine Rückversetzung von Kimmich auf die ohnehin wacklig besetzte Position des rechten Außenverteidigers muss der Bundestrainer wieder in Betracht ziehen. Zumal er hinten links mit Torschütze Havertz eine vielfach unkonventionellere Lösung offenbar auch bei der EM für sinnvoll hält.
Nagelsmanns Überzeugung: Weltklasse-Spieler – wie Havertz – könnten auf verschiedenen Postionen Weltklasse spielen. Wie ein Tennis-Crack, der auf Rasen und Sand erfolgreich sei, meinte der Bundestrainer im ARD-Interview. Er wolle so viele Weltklasse-Spieler auf den Rasen bringen wie möglich und dabei keine Rücksicht auf Positionen nehmen. Auch das hatte Flick immer wieder versucht, sich dabei taktisch nicht nur bei der WM in Katar total verzettelt und vor allem seine eigene Mannschaft verwirrt.
Zu viele kleinteilige Debatten schaden auch jetzt. Das machten zwei Team-Oldies deutlich. «Wir wollen es nicht totanalysieren. Wir lassen uns jetzt nicht unterkriegen, das ist unser Job, dass wir weitermachen», sagte Müller. «Wir sind immer noch in der Phase, in der wir Erfolgserlebnisse brauchen», sagte Torschütze Niclas Füllkrug. So wie Müller und Hummels auf dem Fan-Bolzplatz.
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