Die Vorlage für das Zwischenzeugnis von Bernd Neuendorf gab der Deutsche Fußball-Bund selbst. «Klassenzimmer» heißt der große Arbeitsraum, in dem der DFB-Präsident zum Jahrestag seiner Wahl an diesem Samstag eine persönliche Bilanz zog, im Obergeschoss der neuen DFB-Akademie mit wunderbarem Blick auf die verschneiten Trainingsplätze.
Immer wieder nahm der 61-Jährige seine markante Brille ab, legte ob der schwer belastenden Verbandsthemen die Stirn in Falten. Der Vergleich zum Oberstudienrat lag nicht ganz fern. «Wir müssen die Spur halten», sagte Neuendorf, der den DFB in den vergangenen zwölf Monaten durch mehrere Krisen lenken musste, die nach den Debakel-Jahren seiner Vorgänger so nicht abzusehen waren. Der Krieg in der Ukraine mit den energiewirtschaftlichen Folgen, die massiven finanziellen Probleme mit Millionenverlusten, dazu die sportliche Blamage bei der Katar-WM samt gesellschaftspolitischem Schlingerkurs und FIFA-Streit. Neuendorf war mittendrin, mal souverän, mal eher Schüler als Lehrer.
Gratwanderung für Neuendorf bei FIFA-Kongress
«Wir dürfen uns nicht beirren lassen von der ein oder anderen Überschrift», sagte Neuendorf, der immer wieder die Themenvielfalt beim DFB hervorhob. Die in Katar blamabel in der Vorrunde gescheiterte Nationalmannschaft sei zwar «prominent», die Heim-EM 2024 überaus bedeutend. In der Katar-Debatte um die «One Love»-Kapitänsbinde spielte auch die große Bundespolitik mit. «Aber im gesamten Portfolio des DFB ist es die Spitze des Eisbergs», sagte Neuendorf. «Bis in die untersten Amateurligen» reichten die «großen Herausforderungen».
Als nächste große Aufgabe steht für den DFB-Präsidenten in der kommenden Woche die sportpolitische Gratwanderung beim FIFA-Kongress in Kigali an. Die Vollversammlung wird aller Voraussicht nach zur Machtdemonstration des in Deutschland scharf kritisierten FIFA-Präsidenten Gianni Infantino, der mit großer Mehrheit im Amt bestätigt werden dürfte. Im Klassenzimmer-Bild wartet auf Neuendorf eine mehrstündige Klausur mit vielen Unwägbarkeiten – und großer Erwartungshaltung.
«Ich werde ihn niemals persönlich attackieren», sagte Neuendorf über Infantino. Die vom DFB bislang verweigerte Unterstützung für Infantino bei der Wahl in Ruanda wird im Verband als deutliches Zeichen gewertet. Aufgrund der Stimmverhältnisse im FIFA-Kongress hat das Votum aus Deutschland aber letztlich keine Auswirkungen auf das Endergebnis. Infantino bleibt, und Neuendorf weiß als erfahrener Politiker, dass er sich damit arrangieren muss – erst recht, wenn er wie erwartet im April ins FIFA-Council, dem Entscheidungsgremium des Weltverbands, gewählt wird.
«Infantino abzulehnen, ist schön und gut; um was zu verändern braucht es aber ein Konzept, inhaltliche und personelle Alternativen», sagte Sylvia Schenk, Leiterin der Arbeitsgruppe Sport von Transparency Deutschland, der Deutschen Presse-Agentur. «Mal schauen, wie Bernd Neuendorf künftig der Spagat zwischen Fundamentalkritik als DFB-Präsident und seiner angestrebten Mitgliedschaft im FIFA-Council, wo er Mehrheitsentscheidungen mittragen muss, gelingt.» Im DFB gehe es mit Neuendorf «deutlich gesitteter» zu, urteilte die Juristin.
Die Situation, wenn nötig, lieber einen Tag länger analysieren, mit Bedacht reagieren. Neuendorf nimmt einen anderen Weg als so mancher seiner lautstarken Vorgänger, Schlagzeilen liegen dem früheren SPD-Staatssekretär nicht. Im schnelllebigen Fußballgeschäft, in dem der DFB unter den Fans weiterhin kein gutes Image genießt, ist das zumindest ungewöhnlich. Beim Spaziergang besinne er sich oftmals, berichtete Neuendorf. «Das ist das, wofür du arbeitest», sage er sich, wenn er an einem Amateurplatz vorbeigehe.
Die Amateurvertreter werden die Fortschritte auf dem DFB-Campus genau verfolgen. Die Einnahmen des großen Verbands sind bedeutend für die Landes- und Regionalverbände – abhängig sind sie aber vom Erfolg der Nationalmannschaft. «Ist die Nationalmannschaft erfolglos, geht es dem DFB auch wirtschaftlich nicht gut. Das kann man mit jedem Bundesligisten vergleichen», sagte Schatzmeister Stephan Grunwald, dessen Wahl sich wie die von Neuendorf am Samstag jährt.
DFB-Finanzlage weiter kritisch
Der DFB verzeichnete im aktuellen Finanzbericht auch wegen nötiger Steuerrückstellungen ein Minus von 33,5 Millionen Euro. Grunwald bezifferte den Haushalt für dieses Jahr auf minus 19,5 Millionen Euro. Durch das Vorrunden-Aus bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 sind dem DFB Prämien in Millionenhöhe entgangen. Zudem, erläuterte Grunwald, würden sich sportliche Misserfolge auf Vertragsverhandlungen mit den Sponsoren auswirken. «Die Situation ist so, wie sie ist, und wir bekommen sie auch gelöst», sagte der Schatzmeister.
Auch für das Finanzielle kündigte Neuendorf an, demnächst auf politisches Parkett zurückzukehren. «Ich würde gerne vor dem Kabinett vorsprechen, um die Bedeutung des Turniers allen Ministern vor Augen zu führen», sagte der 61-Jährige im Gespräch über die Heim-EM, für die er sich mehr Unterstützung wünscht. Immerhin: «Der Zugang zur Politik ist deutlich intensiver geworden, das war auch gewünscht und gewollt. Das zeigt, dass wir wieder einen Dialog haben.»
Weitere Nachrichten
Plädoyer für mehr Menschlichkeit von Fußball-Profi Konaté
Plädoyer für mehr Menschlichkeit von Fußball-Profi Konaté
Drohendes Unwetter nimmt Einfluss auf Public Viewing