Noah Lyles rast in der viertbesten jemals gestoppten Zeit über 200 Meter ins Ziel und verteidigt seinen WM-Titel. Er bricht den amerikanischen Rekord von Michael Johnson. Hinter ihm holen zwei weitere US-Amerikaner Silber und Bronze bei der ersten Leichtathletik-WM in den USA.
Unter den feiernden Zuschauern auf der Tribüne des Hayward Field Stadions in Eugene sind die beiden Bürgerrechtsikonen Tommie Smith und John Carlos. Sie sorgten bei den Olympischen Spielen 1968 mit ihrem Protest auf dem Siegerpodest nach Gold und Bronze über 200 Meter für riesiges Aufsehen – und zählen zu Lyles‘ historischen Vorbildern.
Mehr Drama, Inhalt und Weltklasseniveau geht quasi nicht bei einem sportlichen Großereignis. Doch sechs Jahre vor den Olympischen Spielen in Los Angeles findet Leichtathletik in der öffentlichen Wahrnehmung der USA weiterhin nicht statt. Obwohl nur etwa 15.000 Karten in den freien Verkauf kommen, gibt es im wunderschönen Stadion in der Studentenstadt Eugene stets zahlreiche freie Plätze.
Der Olympia-Sender NBC hat zwar die TV-Rechte, doch selbst interessierte Menschen haben Schwierigkeiten, die WM im Fernsehprogramm tatsächlich auch zu finden und anschauen zu können. Die große Masse der sportaffinen Bevölkerung des Landes scheint nicht mal zu wissen, dass die WM in Oregon gerade läuft.
Kein anderes Team hat eine Ausbeute wie die Gastgeber
«Viele Leute auf der Welt lieben und schätzen Leichtathletik. Wir hier in Amerika haben noch nicht gelernt, den Sport zu akzeptieren», sagte Carlos auf einer Pressekonferenz, kurz bevor Lyles in der Fabelzeit von 19,31 Sekunden zum Titel stürmte. Der neue und alte 200-Meter-Weltmeister hatte bei US-Meisterschaften selbst schon wie einst der inzwischen 77-Jährige eine in einem schwarzen Handschuh steckende Faust in die Luft gereckt. Mit seinen Teamkollegen Kenneth Bednarek und Erriyon Knighton sammelte er die US-Medaillen Nummer 20, 21 und 22.
Kein anderes Team hat auch nur annähernd eine Ausbeute wie die Gastgeber bei ihrer ersten Heim-WM. Lyles, 100-Meter-Weltmeister Fred Kerley oder Kugelstoß-Weltrekordhalter Ryan Crouser erledigen ihren Job in einem Land, in dem nichts so sehr zählt wie Erfolg – und dennoch sorgen diese Titelkämpfe nicht einmal in der als «TrackTown USA» bezeichneten Gastgeberstadt Eugene mit ihrer großen Leichtathletik-Geschichte für spürbare Euphorie.
Nach sieben von zehn Wettkampftagen waren im Schnitt lediglich 75 Prozent der Tickets verkauft. Wer nur ein paar Blöcke vom Stadion entfernt durch die Straßen läuft, bemerkt schon nichts mehr von der WM auf dem Gelände der University of Oregon. «Es sah so aus, als wurden alle Tickets verkauft. Wurden sie auch, ich weiß nur nicht, an wen», scherzte die deutsche Diskuswerferin Shanice Craft. «Die Amis haben für ihre Athleten gute Stimmung gemacht, und es ist schon cool, wenn man hier ins Stadion kommt. Es ist ein superschönes Stadion, der Diskusring ist in der Mitte, besser kann das glaube ich nicht sein. Aber trotzdem dachte ich, dass die Ränge voller wären.»
Coe: Leichtathletik wird Sportart Nummer fünf in USA
2028 will Weltverbandspräsident Sebastian Coe die Leichtathletik zur Nummer fünf der Sportarten in den USA gemacht haben. Dieser Weg ist noch sehr weit. «Wir sind nicht mal in der Nähe der Anteile, die ich haben will und die wir haben sollten. Wobei, es gibt kein sollte. Wir haben nicht genug getan», gestand der 1500-Meter-Olympiasieger der Spiele 1984 in Los Angeles bei seiner Halbzeitbilanz.
«Damit Olympische Spiele wirklich funktionieren, brauchst du eine starke Präsenz der Leichtathletik, und du brauchst wirklich eine starke Präsenz der Leichtathletik in einem Land, das in der Leichtathletik ganz vorne ist», erklärte Coe. Nirgendwo auf der Welt gebe es so viele Schüler, die in der Leichtathletik unterwegs seien. Fast 50 Millionen Einwohner würden regelmäßig joggen. «Du hast die besten Athleten der Welt und all diese anderen Vorzüge», sagte der Brite und forderte: «Wir müssen sicherstellen, dass die Leute viel mehr von unserem Sport verstehen, wenn wir bei 2028 angekommen sind.»
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