Ging es um Sport, hatte es Jonas Vingegaard zunächst schwer. Der schmächtige Junge aus Jütland spielte Fußball, doch so richtig glücklich wurde er damit nicht.
«Ich war so klein, dass die anderen mir nie den Ball gegeben haben», sagt Vingegaard. Sein Weg zum Gelben Trikot der Tour de France begann schließlich an einem August-Tag im Jahr 2007. Sein Vater Claus, ein Konstrukteur von Lachsfarmen, nahm den zehn Jahre alten Jonas mit zu einer Etappe der Dänemark-Rundfahrt, die wenige Kilometer vor der Haustür startete. Und Vingegaard verliebte sich auf Anhieb in den Radsport.
Vingegaard in Gelb – trotz Rückschlägen
15 Jahre später ist Vingegaard immer noch schmächtig. Um die 60 Kilogramm bringt der 25-Jährige gerade einmal auf die Waage, am bleichen Oberkörper zeichnen sich die Rippen ab. Doch der stille Mann aus Thisted ist nun der beste Radprofi der Welt. Sechs Etappen vor dem Ende der Tour de France liegt Vingegaard 2:22 Minuten vor dem bis vor Kurzem als unschlagbar geltenden Slowenen Tadej Pogacar.
Vor den Pyrenäen, in die es an diesem Dienstag auf der 16. Etappe geht, erlitt Vingegaard allerdings gleich mehrere Rückschläge. In Primoz Roglic und Steven Kruijswijk mussten seine beiden besten Berghelfer das Rennen aufgeben. Dann stürzte auch noch Vingegaard selbst, gab aber umgehend Entwarnung: «Ich bin okay. Nur ein paar Abschürfungen.» Der Sturz am Sonntag sah allerdings so hart aus, dass an den Beschwichtigungen des Dänen gezweifelt wird. Doch der will natürlich keine Schwäche zeigen, erst recht nicht gegenüber dem lauernden Pogacar.
Abgehärtet durch Wind – aber es fehlte Routine
Biss auf dem Rad hatte Vingegaard schon immer. Daheim in Jütland, wo die höchste Erhebung – die Yding Skovhöj – gerade einmal 173 Meter misst, holte er sich im strammen Gegenwind der Westküste die nötige Härte. «Er kam relativ spät in die Pubertät, erst mit 17. Davor hatten die Leute im Verein immer Angst, dass es ihn wegwehen würde», erinnert sich Vater Claus. Ab dem 15. Lebensjahr fuhren Vater und Sohn jährlich für eine Woche nach Frankreich, um in den Alpen zu trainieren. Natürlich hängte Jonas seinen Senior bald leichtfüßig ab.
Mit 19 Jahren bekam Vingegaard ein Angebot vom kleinen Team ColoQuick, das so etwas wie der Gold-Standard der dänischen Talentschmieden ist. Doch Vingegaard kam mit dem Leben als Profi zunächst nicht zurecht. «Er war nicht gut organisiert, hatte keine Routine und stand spät auf», berichtet sein damaliger Teamchef Christian Andersen. Man riet Vingegaard, sich doch bitte einen Job zu suchen.
Unverhofft zum Radstart in Dänemark
Und so kam es, dass das Naturtalent auf dem Rad zwei Jahre lang in einer Fischfabrik in Hanstholm arbeitete. Jeden Tag packte Vingegaard von sechs bis zwölf Uhr im Hafen den Dorsch ein und überwachte dann die Auktion. Am Nachmittag ging es mit seinem Chef, einem guten Amateurrennfahrer, zum Training. 2018 meldete sich schließlich Grischa Niermann bei ColoQuick, interessierte sich eigentlich für einen anderen Fahrer. Doch man riet dem Sportlichen Leiter von Jumbo-Visma, sich doch mal diesen Vingegaard anzusehen. Seit der Saison 2019 wurde Vingegaard langsam aufgebaut, bis er im vergangenen Jahr nach dem Ausfall von Roglic unverhofft zum Kapitän aufstieg und gleich Zweiter der Tour wurde.
In Dänemark hat das bereits für einen Hype gesorgt. Dieser war bisher nicht so groß wie jener nach dem Tour-Sieg von Bjarne Riis 1996. Doch mit einem Triumph in Paris dürften im hohen Norden alle Dämme brechen. Einen Vorgeschmack darauf bekam der im Gegensatz zu Riis sehr nahbare Vingegaard bereits beim Start in diesem Jahr in Kopenhagen. Die TV-Übertragungen hatten einen Marktanteil von bis zu 78 Prozent. Und als mehr als 10.000 Zuschauer bei der Teampräsentation im Tivoli seinen Namen riefen, trieb es ihm die Tränen in die Augen. Nun hofft ein ganzes Land auf die nächsten Freudentränen beim Finale auf den Pariser Champs-Élysées.
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