22. November 2024

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Getrübte deutsche Aussichten: Viele Absagen – wenige Trümpfe

Ein Jahr nach der mageren Olympia-Bilanz sind auch die Aussichten bei der WM für Deutschlands Leichtathleten nicht blendend. Absagen wie die von Speerwurf-Ass Johannes Vetter sind schwer zu verkraften.

Seit ihrem Amtsantritt vor gut zwei Jahren ist die deutsche Leichtathletik-Cheftrainerin Annett Stein vor allem als Krisenmanagerin gefragt.

Und auch bei den Weltmeisterschaften von Freitag an bis zum 24. Juli in Eugene sind die Erfolgsaussichten für den Deutschen Leichtathletik-Verband nach Corona-Krise und Olympia-Enttäuschung eher getrübt. Absagen von Medaillenkandidaten und eine Reihe von Erkrankungen von Topathleten in der Vorbereitung stellen den gewünschten merklichen Aufschwung infrage.

«Es wäre schön, wenn es mehr Medaillen als bei Olympia werden», sagte Stein. «Wir tun uns mit Zahlen immer schwer, auch wenn ich eine im Kopf habe.» Großer Rechenkunst bedarf es nicht, um zu erahnen, dass der Gewinn von nur drei Medaillen bei den Tokio-Spielen im US-Bundesstaat Oregon nicht gewaltig übertroffen werden dürfte – wenn überhaupt.

Wichtige Podestanwärter fehlen

Denn gleich vier Anwärter für das Siegerpodest mussten passen: im Speerwurf Johannes Vetter – WM-Dritter von 2019 – und Europameisterin Christin Hussong, dazu die Ex-Vizeweltmeisterin im Siebenkampf, Carolin Schäfer, und der Olympia-Zweite im Gehen, Jonathan Hilbert.

Andere Spitzenkräfte wie die zweimalige Hindernis-Europameisterin Gesa Krause und Lauf-Ass Konstanze Klosterhalfen wurden in der WM-Vorbereitung durch eine Erkältung beziehungsweise eine Corona-Infektion beeinträchtigt. Die WM-Dritte über 5000 Meter wird in Eugene über 10.000 Meter antreten. Sorgen bereitet zudem Niklas Kaul. Der Zehnkämpfer hatte seit dem WM-Triumph 2019 eine schwere Zeit und mit Verletzungen zu kämpfen. «Natürlich ist das ein Handicap. Wir sind dadurch etwas geschwächt», sagte Stein zur hohen Zahl an Absagen und Blessuren.

Trumpf Mihambo

Besonders wichtig ist deshalb, dass die wenigen Trümpfe stechen. Allen voran Malaika Mihambo: Für die Olympiasiegerin, Welt- und Europameisterin, der mit 7,09 Metern der weiteste Sprung des Jahres gelang, ist die Titelverteidigung jedoch kein Selbstläufer. «Man bekommt nichts geschenkt, deshalb bin ich demütig», sagte die 28 Jahre alte dreimalige Sportlerin des Jahres. Überhaupt gehe es ihr «nicht mehr so sehr um Medaillen und Titel». Mihambo erklärte: «Ich sehe den Wettkampf als eine innere Meisterschaft.»

Weniger zurückhaltend ist Diskuswerferin Kristin Pudenz (29), die beflügelt durch die Olympia-Silbermedaille auch bei der WM zuschlagen will. «Alles andere, als mich als Medaillenkandidatin zu bezeichnen, würde ich nicht machen», sagte die Potsdamerin couragiert. Bei den deutschen Titelkämpfen in Berlin unterstrich sie ihre Ambitionen mit einer persönlichen Bestweite von 67,10 Metern.

Ebenso wenig will Speerwerfer Julian Weber tiefstapeln. Er verfehlte bei den Tokio-Spielen Bronze nur um 14 Zentimeter und steht nach dem Vetter-Rückzug im Blickpunkt. «Die Weltelite ist stark, aber ich bin auch stark», sagte der 27-jährige Mainzer. Beim Meeting in Hengelo warf er mit 89,54 Metern so dicht wie nie zuvor an die 90-Meter-Marke. «Ich will weiter werfen und eine Medaille holen», betonte er. Dass die deutschen Rivalen Vetter und Thomas Röhler – Olympiasieger von 2016 – fehlen, dürfte seine Zuversicht stärken.

Auf einem verheißungsvollen Weg ist Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre. Bei den nationalen Titelkämpfen überquerte er erstmals 5,90 Meter und kletterte in der Weltrangliste an die fünfte Position. Der 23-jährige WM-Vierte ist damit in die Weltspitze um den schwedischen Überflieger Armand Duplantis geflogen. «Von der Fähigkeit bin ich näher dran, vorne mitzumischen», sagte der Stab-Artist.

Überraschungen dringend gebraucht

Überraschungen werden dringend gebraucht. «Die WM ist unser Zielwettbewerb Nummer eins. Wir werden danach bemessen, wie viele Trainerstellen und Förderung wir erhalten», sagte Chef-Bundestrainerin Stein. 2019 in Doha holten die DLV-Asse sechs Medaillen, inklusive zweimal Gold durch Mihambo und Kaul. In der US-Stadt Eugene gehen etwa 80 deutsche Starter in die Wettbewerbe.

Keine Sorge hat der DLV, dass die Heim-EM drei Wochen später in München für die Athleten emotional attraktiver sein könnte, den absoluten Fokus auf die WM schmälert und die eine oder andere WM-Absage leichter gemacht hat. «Wenn du in Form bist und an den Start gehst, machst du dir keinen Kopf, was drei Wochen später kommt», sagte der Vorstandschef Idriss Gonschinska. «Das würde ich mir zumindest wünschen.» Er hat aber Verständnis für die Vorfreude auf das Heimspiel: «Die EM 2018 in Berlin war eine Leichtathletik-Party, die jeder wieder erleben möchte.»

Von Andreas Schirmer und Maximilian Haupt, dpa