Als sich der Traum vom Gelben Trikot in 1460 Metern Höhe zerschlagen hatte, rauschte ein völlig entkräfteter Lennard Kämna mit einem Handtuch um den Hals auf seiner Rennmaschine davon.
Ein «Sch…» huschte ihm noch über die Lippen. Alles gegeben, alles gewagt – doch am Ende fehlte dem Norddeutschen mit dem großen Kämpferherz auf einer chaotischen Alpen-Etappe die Winzigkeit von elf Sekunden zum begehrten Maillot jaune, das weiterhin der Slowene Tadej Pogacar trägt.
«Ich habe das im Berg gar nicht so realisiert, dass ich eine so große Chance auf das Gelbe Trikot hatte. Ich hatte das erst auf den letzten drei Kilometern realisiert. Da bin ich dann Vollgas gefahren. Elf Sekunden hätte ich sicher irgendwo holen können», sagte Kämna, wollte aber nicht groß hadern: «Ich bin jetzt elf Sekunden nach zehn Tagen zurück und Zweiter im Gesamtklassement. Das ist auch nicht so schlecht. Es ist trotzdem kein schlechter Tag. Es war nicht die Riesen-Enttäuschung, weil ich nicht riesig am Träumen war.»
Auf der zehnten Etappe über 148,1 Kilometer von Morzine Les Portes du Soleil nach Megève, die wegen Klimaaktivisten auf der Fahrbahn zwischenzeitlich unterbrochen war und von großen Corona-Sorgen im Team um Dominator Pogacar begleitet war, kam Kämna als Zehnter in einer Ausreißergruppe ins Ziel. Pogacar erreichte 8:32 Minuten später den Alpenort. Das reichte, um Gelb zu sichern.
Sekunden-Krimi am Schlussanstieg
«Der Schmerz sitzt schon. Wir müssen das Positive rausziehen. Dass Lenni nach zehn Tagen Zweiter ist, ist aus der deutschen Radsport-Brille auch nicht so schlecht», meinte Teamchef Ralph Denk. Am Schlussanstieg war es ein Sekunden-Krimi. Hilfe in der Ausreißergruppe bekam Kämna nicht. «Ich hatte das Gefühl, dass jeder gegen mich fährt. Es hat keinen Spaß in der Spitzengruppe gemacht.» Den Tagessieg holte sich der Däne Magnus Cort Nielsen.
Trotzdem zählten die Deutschen zu den Protagonisten auf dieser Alpen-Etappe: Kämnas Landsmann Georg Zimmermann gehörte der Spitzengruppe ebenfalls an und wurde Sechster. Und Simon Geschke verteidigte sein gepunktetes Bergtrikot erfolgreich.
Fast exakt 25 Jahre nach der Triumphfahrt von Jan Ullrich war Kämna ganz nah dran, als 15. Deutscher das Gelbe Trikot zu holen. Der letzte deutsche Spitzenreiter war Tony Martin im Jahr 2015. Im Gegensatz zum viermaligen Zeitfahr-Weltmeister ist Kämna aber auch ein Mann für die Berge, schon 2020 hatte er die Tour-Bergetappe nach Villard-de-Lans gewonnen, und erst im Mai triumphierte das Leichtgewicht aus dem Bora-hansgrohe-Team beim Giro auf dem Ätna.
Wie schon auf der siebten Etappe, als Pogacar Kämna den Tagessieg 100 Meter vor dem Ziel entriss, präsentierte sich der frühere Junioren-Weltmeister aus Deutschland wieder im Angriffsmodus. Kämna attackierte in einer Fluchtgruppe und fuhr Minute um Minute heraus. Auf dem Schlussanstieg wurde es immer enger, am Ende reichte der Vorsprung nicht.
Klimaaktivisten sorgen für Unterbrechung
Zuvor hatten Klimaaktivisten für eine Unterbrechung des Rennens gesorgt. Gut 36 Kilometer vor dem Ziel herrschte Stillstand, nachdem bis zu 20 Demonstranten auf der Straße das Rennen blockiert und Pyrotechnik gezündet hatten.
Weniger stressig war der Tag für Geschke. Durch die große Ausreißergruppe war für den Berliner Routinier mit dem Vollbart das Bergtrikot nicht in Gefahr.
Beim Mann in Gelb herrscht dagegen Corona-Alarm. Zwei weitere Teamkollegen von Pogacar wurden positiv getestet, Edelhelfer Rafal Majka durfte vorerst die Fahrt fortsetzen, weil der Pole als kaum infektiös gilt. «Das ist eine sehr schwierige Situation. Wir sind jeden Tag gemeinsam gefahren, aber im Hotel versuchen wir uns so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Ich hoffe nur, dass sich sonst keiner angesteckt hat», sagte Pogacar.
Auf der ersten schweren Hochgebirgsetappe am Mittwoch wird sich zeigen, wie konkurrenzfähig das Team des Slowenen noch ist. Am Dienstag musste nach einem positiven Test auch der Neuseeländer George Bennett aussteigen, zuvor hatte es bereits den Norweger Vegard Stake Laengen aus Pogacars Team erwischt. Da auch der Australier Luke Durbridge aus der Mannschaft BikeExchange-Jayco positiv getestet wurde, verzeichnete die Tour die Corona-Fälle Nummer vier und fünf.
Am Mittwoch dürfte es zum ersten großen Schlagabtausch kommen, wenn es zunächst über den 2642 Meter hohen Bergriesen Col du Galibier geht. Am Ende wartet die Kletterpartie zum Col du Granon, einem weiteren Berg der höchsten Kategorie.
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