Thomas Reis hat mit dem VfL Bochum überraschend souverän den Klassenerhalt in der Fußball-Bundesliga geschafft.
Nach einer intensiven Saison mit Siegen gegen den FC Bayern München (4:2) und beim BVB (4:3), spektakulären Toren von Milos Pantovic und Gerrit Holtmann sowie einen Spielabbruch freut er sich auf einen Traumurlaub. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht Reis über die Kaderplanung, ein schwieriges zweites Bundesligajahr und Millionen-Transfers wie von Erling Haaland.
Wenn Ihnen jemand vor der Saison gesagt hätte, dass Sie den Klassenerhalt schon nach dem 32. Spieltag sicher haben, was hätten Sie dann gesagt?
Thomas Reis: Dass es ein Wunder wäre! Wir wollten unsere minimale Chance nutzen und ich denke, dass wir sie eindrucksvoll genutzt haben.
Wie sehr freuen Sie sich nach der intensiven Saison auf einen Urlaub?
Reis: Man merkt schon, dass die Saison sehr an den Kräften gezehrt hat – gerade vom Kopf her. Irgendwann merkt man auch, dass der Akku ziemlich leer wird. Deswegen werde ich die freie Zeit genießen. Aber trotzdem ist das Handy an, weil wir ja auch wieder eine neue Mannschaft ins Rennen schicken müssen. Ich habe den Drang, immer erreichbar zu sein. Da muss ich auch noch lernen. Wenn ich mit meiner Frau im Urlaub bin, werde ich aber vielleicht mal nur zweimal am Tag drauf schauen.
Wo geht es denn hin?
Reis: Wir wollen dieses Jahr auf die Seychellen. Das war immer ein Traum. Das werde ich 14 Tage genießen und vielleicht die letzten zwei Jahre auch mal Revue passieren lassen, um alles ein bisschen zu verarbeiten. Das war ja schon extrem – im positiven Sinne.
Der VfL hat in dieser Saison viele Fußballfans mit spektakulären Spielen und Toren begeistert. Zur Saison gehört aber natürlich auch der Becherwurf und der Abbruch der Partie gegen Borussia Mönchengladbach. Glauben Sie, dass der Becherwurf dem Image des Vereins nachhaltig geschadet hat?
Reis: Nein, das glaube ich nicht. Man kann das nicht entschuldigen, aber es sind auch schon vorher Becher geflogen und danach, nicht nur in unserem Stadion. Auch bei anderen Vereinen. Der Verein hat eine Strafe erhalten, diese auch wie angekündigt sofort akzeptiert und danach haben sich die Fans gut verhalten. Es sind Einzelne, die so etwas tun. Wir haben tolle Fans, die auch auswärts riesig Stimmung machen. Ich denke auch, wir haben mit unserer Leistung dazu beigetragen, dass der VfL in Deutschland absolut positiv gesehen wird. Die Liga kann sich freuen, dass der VfL noch mindestens ein weiteres Jahr dabei ist.
Durch die Pandemie mussten die Vereine lange in dieser Saison ohne Zuschauer oder nur mit wenigen Fans im Stadion auskommen. Trifft so etwas den VfL besonders?
Reis: Finanziell trifft es jeden Verein. Wir können mit Zuschauern erfolgreich sein, aber auch ohne. Das hat man direkt nach dem Lockdown gespürt. Zu dem Zeitpunkt mussten wir noch um den Klassenerhalt in der zweiten Liga kämpfen und Unzufriedenheit von den Rängen kann dann sehr hemmend wirken. Die Ruhe hat der Mannschaft in dieser Situation offenbar gutgetan. Es ist schade, dass unsere Fans in der Aufstiegssaison nicht dabei sein konnten. Alle waren dann stolz darauf, in die Bundesliga zurückgekehrt zu sein. Diesen Stolz hat man vom ersten Moment an gespürt. Das hat uns getragen. Es war ja ein echter Hexenkessel bei uns. Als wir wieder mit Zuschauern gespielt haben, war das für uns Gold wert. Die Fans haben uns richtig geholfen. Ohne Zuschauer wäre es wesentlich schwerer geworden.
Fühlt sich der Fußball für Sie wieder an wie vor der Pandemie, was die Stimmung und die Fans angeht?
Reis: Mein Eindruck war, dass die Stimmung am Anfang irgendwie anders, mitunter sehr aggressiv war. Man hat gemerkt, dass den Leuten was gefehlt hat. Ich weiß nicht, ob man es mit der Pandemie allein begründen kann – ob es bei uns der Becherwurf war, anderswo sind wir auch beworfen worden oder es wurden auch mal die gegnerischen Trainerbänke beleidigt. Auswärts haben wir auch so ein bisschen mehr das Negative erfahren. Das war anfangs alles extremer. Mittlerweile hat es sich so gewandelt, dass die Leute einfach wieder froh sind, ihre Vereine zu unterstützen. Zuschauer gehören einfach dazu. Da gehört es auch dazu, dass man emotional mal ein bisschen dagegenhalten muss. Das macht einfach wieder Spaß.
Für viele Fans ist der VfL ein Verein, der an die gute alte Zeit erinnert. Mit weniger Kommerz und viel Tradition. Sehen Sie das auch so?
Reis: Natürlich ist mit dem VfL Tradition zurückgekehrt – mit dem alten Stadion mitten in der Stadt, mit dem alten Flair. Auf der anderen Seite ist das natürlich auch nicht mehr zeitgemäß. Wir haben keine Logen wie an anderen Standorten. Da stecken finanzielle Möglichkeiten drin, von denen wir weit weg sind. Viele verbinden den VfL Bochum mit dem tollen Vonovia Ruhrstadion. Aber für die Zukunft ist es natürlich schwer, da auch mitzuhalten. Einige sagen natürlich nach dieser Saison, dass es auch so geht. Die Frage ist nur: Wie lange geht das so?
Ist das eine zentrale Aufgabe des VfL: Da die richtige Mischung zu finden? Auf der einen Seite das zu behalten, was ihn ausmacht, sich aber auch weiterzuentwickeln?
Reis: Der VfL wird in den nächsten Jahren immer versuchen müssen, die Liga zu halten. Das wird wahnsinnig schwer. In jedem Jahr, in dem du die Liga hältst, kannst du natürlich etwas aufbauen – auch infrastrukturell. Trotzdem hat jeder Verein seine Identität und die musst du dir bewahren. Wir haben unsere Werte wie «unbeugsam». Und solange ich Trainer bin, werde ich immer versuchen, dass die Mannschaft diese Werte auf den Platz bringt.
Viele Fans sehen Bochum auch ein bisschen als Gegenentwurf zu Vereinen wie RB Leipzig oder TSG 1899 Hoffenheim, wo ein großer Konzern bzw. ein Mäzen dahintersteht. Wie stehen Sie zum Thema Investoren?
Reis: Das wird häufig negativ gesehen. Wenn man zum Beispiel auf Dietmar Hopp in Hoffenheim schaut: Ich finde, dieser Mann hat viel für den Sport in Deutschland getan – auch, was Arbeitsplätze angeht. Er macht ja nicht nur Fußball, sondern auch Eishockey und Handball. Wenn ein Mensch so etwas aufbaut, finde ich das gut. Es gab schon immer Vereine, die von Konzernen unterstützt werden wie von VW in Wolfsburg oder von Bayer in Leverkusen. Damit muss du halt klarkommen. Aus Trainersicht würde ich mir natürlich auch wünschen, dass ich mehr Möglichkeiten bekomme, um eine Mannschaft besser aufzubauen. Ich würde mich nicht dagegen wehren, wenn man jemanden passend zum Verein und zur Region findet. Der Verein hat da seine Vorstellung, was er sucht und wenn da jemand kommen würde: Als Trainer würde ich Ja sagen.
Sie haben noch Vertrag bis 2023. Wäre nach dieser Saison nicht ein super Zeitpunkt, um mit dem Verein über eine Vertragsverlängerung zu sprechen?
Reis: Das müssen die handelnden Personen im Verein entscheiden. Ich denke, dass ich hier bisher sehr gute Arbeit geleistet habe und mich für meine erste Profistation sehr gut entwickelt habe. Alles andere wird man sehen. Wenn der Verein irgendwann Gespräche über eine Zusammenarbeit über 2023 hinaus führen möchte, bin ich gesprächsbereit. Ich habe noch ein Jahr Vertrag und denke schon, dass ich mir einen Namen gemacht habe. Mein letzter Vertrag wurde auch erst in dem Halbjahr verlängert, in dem er ausgelaufen ist. Deshalb bin ich entspannt.
Der VfL hat vor dem Spiel gegen Bielefeld elf Spieler verabschiedet. Unter anderem die Leihen von Elvis Rexhbecaj und Konstantinos Stafylidis laufen aus. Wie groß ist Ihr Wunsch und die Hoffnung, dass von den beiden auch in der kommenden Saison noch jemand für den VfL spielt?
Reis: Wünsche darf ich immer haben, ob sie erfüllt werden, ist eine andere Frage. Ich wollte Elvis unbedingt haben, genau wie Stafylidis. Bei Elvis wird es unheimlich schwer, weil er beim VfL Wolfsburg noch ein Jahr Vertrag hat. Selbst wenn Wolfsburg nicht mit ihm plant, werden sie ihn verkaufen wollen. Eine Ablöse in Millionenhöhe werden wir uns definitiv nicht leisten können. Aber wir werden alles versuchen, auch bei Stafylidis.
Wie blicken Sie sonst auf die Aufgaben des Sommers?
Reis: Wir stehen vor einem Umbruch. Es laufen einige Verträge aus. Und wenn du eine gute Saison gespielt hast, sind viele Spieler mit Verträgen natürlich auch interessant für andere Vereine. Da wissen wir von einigen noch nicht, ob sie nächste Saison noch hier sind. Wir wissen, dass wir im Vergleich zu anderen Vereinen keine Top-Gehälter bezahlen können. Manche Spieler wissen, dass sie bei anderen Vereinen mehr verdienen können – und wir reden hier nicht von ein paar Euro, sondern vielleicht vom Doppelten. Da kann es natürlich sein, dass ein Spieler einen Wechselwunsch hegt. Da muss man dann drüber reden. Sportlich möchte ich natürlich keinen Spieler mit gültigem Vertrag verlieren. Aber ich weiß, bei welchem Verein ich bin und dass wir vielleicht auch eine Art Ausbildungsverein für andere sind. Das ist einfach so als VfL Bochum.
Schalke ist aufgestiegen, bei Werder Bremen und beim HSV sieht es gut aus. Befürchten Sie, dass die Bundesliga in der kommenden Saison noch stärker wird und die Konkurrenz damit größer?
Reis: Schalke ist ein Traditionsverein, da kommt eine ganz andere Wucht. Genau wie bei Werder Bremen. Da wird die Liga gefühlt schon stärker. Was das Budget angeht, starten wir nächstes Jahr womöglich von Platz 18. Aber ich freue mich trotzdem, dass das Ruhrgebiet einen weiteren Verein in der Bundesliga dazubekommen hat. Wir haben nächstes Jahr ein weiteres Derby.
Man sagt ja oft: Das zweite Jahr ist für einen Aufsteiger das schwerste. Sehen Sie das auch so?
Reis: Ja, weil man als Aufsteiger des letzten Jahres den Kader neu strukturieren muss. Außerdem steigt die Erwartungshaltung im Umfeld. Wir können kein anderes Ziel ausgeben als die Mammutaufgabe, auch im nächsten Jahr wieder die Liga zu halten. Man wird nicht mehr als Aufsteiger gesehen, weil wir ja ein Erstligist sind. Aber vom Finanziellen her sind wir eigentlich ein Zweitligist.
Was macht Ihnen Mut, dass der VfL den Klassenerhalt auch im kommenden Jahr schaffen kann?
Reis: Mut macht, dass wir wissen, dass wir tolle Zuschauer haben und dass wir es schon mal geschafft haben. Dass das zweite Jahr das schwerste ist, ist ja auch wieder eine Motivation – zu zeigen, wir schwimmen gegen den Strom, wir wollen das erreichen. Und wir haben jetzt mehr Erfahrung. Wenn die Grundtugenden da sind, können wir auch im nächsten Jahr die Liga halten.
Manchester City verpflichtet Erling Haaland für 75 Millionen Euro, Dortmund holt im Gegenzug direkt Karim Adeyemi für wohl mehr als 30 Millionen Euro. Was denken Sie, wenn Sie solche Summen lesen – gerade auch direkt nach der Pandemie, wo es ja oft hieß, die Branche werde demütiger?
Reis: Das ist immer nur eine Momentaufnahme. Bei den Transfers fängt ein englischer Verein an, weil er die Kohle hat. Die englischen Clubs leiden vielleicht nicht so sehr unter der finanziellen Entwicklung durch die Pandemie, weil sie im Hintergrund Investoren haben, die über entsprechende Finanzmittel verfügen und die dann auch beisteuern. Und dann greift der Domino-Effekt. Man holt Haaland für 75 Millionen. Dadurch werden Gelder für Dortmund frei. Die holen Nico Schlotterbeck, dadurch hat Freiburg wieder Geld und so weiter. Das muss jeder selber wissen. Ich kann die Summen sowieso nicht ändern. Für 75 Millionen Euro spielen wir drei Jahre Bundesliga. Wir hatten dieses Jahr einen Etat von 24 Millionen Euro.
Zur Person: Thomas Reis wurde am 4. Oktober 1973 im baden-württembergischen Wertheim geboren. Als Fußballprofi war er unter anderem für Eintracht Frankfurt, den FC Augsburg und lange für den VfL Bochum aktiv. Seit September 2019 betreut Reis den VfL als Chefcoach.
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